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Ran an den Speck!

Von Sabine Zeilinger

"Männer streben nach Profil, Frauen nach Linie. Männer machen Karriere, Frauen Diäten. Wir Frauen sollen uns dünne machen. In jeder Beziehung." (Schwarzer 1984, S. 6) Wunderbar, nun werden endlich die Tage wieder wärmer und frau muss sich nicht mehr in Mengen von warmen unerotischen Winterkleidern verstecken. Die Einkaufshallen sind vollgestopft mit dünnen Sommerkleidchen. Aber diese Zeit ist nicht nur die Hochkonjunktur der Sommermode, sondern auch die Zeit der Frühlingsdiäten. Oder ist es nur eine verschärfte Ganzjahrdiät, die uns aus allen Ecken und Heftchen anlächelt? Um auf dem neusten Stand der Dinge zu sein, muss frau nicht einmal eine Frauenzeitschrift kaufen. Die wichtigsten Informationen schreien uns von Kiosken und Plakaten hinterher: Frauen macht euch dünne! Unglaublich ist, dass frau mitmacht, sich schlecht fühlt und sich in den Diätenwahn stürzt. Der Fact, dass frau sich nach jeder Diät noch mehr Speck an die Rippen frisst, wird kommentarlos ignoriert. Um ehrlich zu sein, kann frau über diese Diätenvorschläge nur lachen. Winterspeck gibt es in unserem Jahrzehnt nicht mehr, eine Frühlingsdiät ist unangebracht, da der Kampf mit dem Gewicht viele Frauen das ganze Jahr (oder Leben?) gefangen hält. Schlimm wird es nur, wenn die Models dieses Frühlings schon wieder dünner geworden sind, die Kleidchen hängen, die Knie klappern und überall um mich herum Frauen, die diesen halbverhungerten Models ähnlich sehen. Die Hungerkünstlerinnen haben Hochkonjunktur! Unverständlich die Tatsache, dass trotz dem verbreiteten Wissen was Normalgewicht ist, was Diäten nützen und wohin sie uns bringen, der schleichende Magerkult seine Fäden weiter spinnt. Was nützen uns Prinzessin Dianas Geständnisse und Jane Fondas Hinweise? Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess- Brechsucht) sind inzwischen zwar allgemein bekannt, wirken jedoch nicht mehr sehr abschreckend! Hier geht es um mehr! Es geht um den Schlankheitswahn, der sogar vor einer Sucht nicht halt macht!Geschichte der EssstörungenSchon vor Jahrtausenden war die Auszehrung hungernder Menschen bekannt, Kriege, Missernte, Dürre und Regen- sowie Frostperioden waren Ursache dieses Elends. Sehr früh richtete sich der Blick der Menschen auf die Anwendungsmöglichkeiten der Nahrungsenthaltung. Hungerkuren wurden eingesetzt als Behandlungsmethoden verschiedenster Krankheiten. Aber auch die Aushungerung als Strafe oder Druckmittel hat eine lange Tradition. Die bekanntesten Fastenkuren wurden vor allem aus religiösen Gründen durchgeführt. Weiter gab es auch die Verbindung von Nahrungsenthaltung und Besessenheit, oft wurden die Fastenden mit exorzistischen Ritualen geheilt.Den Übergang vom strengen Fasten aus religiösen Gründen zum heutigen Krankheitsbild der Mager- und Brechsüchte bildeten die Wundermädchen sowie die Hungerkünstler. Das Phänomen der Wundermädchen gehörte ab dem 16. Jahrhundert zu den sensationellen Neuheiten. Ebenso wie früher die Fastenheiligen hielten diese Wundermädchen das Fasten angeblich monate- oder gar jahrelang durch. Obwohl der Begriff Anorexia nervosa im 19. Jahrhundert in die medizinische Fachliteratur eingeführt worden war, verschwand die Sensation der Wundermädchen nicht ganz. Die hungernden Mädchen wurden zum Teil weiter als Wunder betrachtet und nicht mit dem Krankheitsbild der Anorexie in Verbindung gebracht. Im 19. Jahrhundert wurde die krankhafte Abneigung gegen alle Nahrung oft als Form der Hysterie betrachtet. Die vermehrte medizinische Untersuchung der Fastenwunder bedeutete das Ende des Phänomens.Einige Fastenwunder konnten sich jedoch der Medizinalisierung entziehen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat das Phänomen des Hungerstreiks in Erscheinung. Die Selbstaushungerung wurde als eine Form des öffentlichen Protestes eingesetzt und kann bis heute weiter beobachtet werden. Neben den Hungerstreikenden gab es eine weitere groteske Form von Hungernden. Diese Hungerkünstler konnten in Varietés, auf Jahrmärkten und im Zirkus gegen Bezahlung von den BesucherInnen bestaunt werden. Im Gegensatz zu den Wundermädchen handelte es sich bei diesen Hungerkünstlern hauptsächlich um Männer. Dies könnte mit ein Grund sein, warum die Hungerkünstler nicht in Verbindung mit Anorexie gebracht wurden. Wie jedoch schon vor Jahrhunderten wurden und werden in der Medizin mildere und selektivere Ernährungsvorschriften bei körperlichen und psychosomatischen Leiden immer noch eingesetzt."Obgleich die uralten Hungerkuren in der heutigen Medizin nicht mehr üblich sind, werden sie von zahlreichen Menschen häufiger als je zuvor angewandt. Für viele ist die Diät nicht länger ein Heilverfahren, sondern ein wichtiger Bestandteil eines häufig fanatischen Strebens nach Schlankheit. Damit ist der Kreis geschlossen. Die Medizin spielte nicht nur eine wichtige Rolle bei der Medizinalisierung der Selbstaushungerung, sie lieferte für ein neues Leiden auch die wichtigste Methode: die Diät, den Motor der Magersucht."(1)Die MagersuchtAus den Wunderfrauen wurden, wie oben geschildert, erst Kranke und im 20. Jahrhundert dann die Süchtigen. Immer höher wurde seit der Entdeckung von Anorexia nervosa die Anzahl der kranken oder süchtigen Frauen. Die Krankheit kann auch bei Männern vorkommen, in 90 Prozent sind jedoch Frauen davon betroffen. Oft beginnt es mit einer übertriebenen Diät, weil die potentiellen Magersüchtigen sich zu dick fühlen. Die Diät wird häufig durch einen Fressanfall unterbrochen, danach folgen noch rigorosere Massnahmen. Immer längere Phasen der Enthaltsamkeit lassen den Körper bis auf die Knochen abmagern. Magersüchtige haben meistens keine Menstruation mehr, sie leiden unter Verstopfung, Überempfindlichkeit gegen Kälte und Wärme, extremem Haarwuchs am ganzen Körper, Verlangsamung des Pulses und anderem. Die Betroffenen haben eine grosse Angst vor dem Dickwerden, auch bei Untergewicht, das Verhältnis zum eigenen Körper ist gestört, das Körpergewicht entspricht in keinem Ausmass der eigenen Gestalt.Weiter kann auffällige körperliche und intellektuelle Hyperaktivität sowie ein unglaubliches Leistungs- und Durchhaltevermögen trotz der enormen Abmagerung beobachtet werden. Die Magersüchtigen zeigen einen gestörten Umgang mit Nahrungsmitteln, ernähren sich meist von kalorienarmen Lebensmitteln und vermeiden die normalen Mahlzeiten. Meist leugnen Magersüchtige, dass sie krank sind und sind stolz auf ihren Widerstand gegen die Versuchung. Die Betroffenen werden von einem negativen Selbstbild gequält, oft führt die eigenartige Lebensweise sogar zu sozialer Vereinsamung.Was aber führt zu dieser Besessenheit und Selbstzerstörung? Und wieso sind es vor allem Frauen, die sich so selber zerstören? Diese Fragen können nicht leicht beantwortet werden. In vielen Fällen beginnt die Magersucht in der Adoleszenz. Die Teenagerzeit ist die Zeit der intensivierten Beschäftigung mit dem eigenen Körper. Die Veränderungen im Körper können das Gefühl der Machtlosigkeit erwecken, mit der Essensverweigerung kann die Situation wieder unter Kontrolle gebracht werden, der Körper entwickelt keine weiteren weiblichen Formen. Die Überwindung des Hungers wird als eigene Stärke gedeutet und es entsteht ein realer oder eingebildeter Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Status und der Schlankheit. Der Wunsch akzeptiert und anerkannt zu werden soll durch den schlanken Körper erfüllt werden."Die Erscheinung, nicht Leistung ist das weibliche Mittel, um zu demonstrieren, wie bezaubernd und begehrenswert frau ist."(2)Die Ess-Brech-SuchtNeben der typischen Form der Selbstaushungerung, der Magersucht, erregt seit den 80er Jahren ein neues Phänomen das Interesse der Öffentlichkeit. Die Ess-Brech-Sucht besitzt viele Parallelen zu der Magersucht. Die Dunkelziffer ist jedoch weit grösser. Die Bulimie oder Ess-Brech-Sucht ist diskreter, die betroffenen Personen passen sich problemlos in das soziale Gefüge ein, da ihre Sucht besser verheimlicht werden kann. Eine Ess-Brech-Süchtige fällt nicht auf, ihr Körper ist oft nicht extrem ausgehungert. Gegen aussen funktionieren sie meist perfekt. Das Körpergewicht wird auch hier zum Gradmesser für das Selbstwertgefühl.Merkmale der Bulimie sind wiederholtes Auftreten von Essanfällen, die krankhafte Beschäftigung mit dem eigenen Gewicht sowie panische Angst vor einer Gewichtszunahme. Hinzu kommen oft auch der Gebrauch oder Missbrauch von Abführ- und Entwässerungsmitteln. Aus Schuldgefühlen bei jeder Mahlzeit treiben Ess-Brech-Süchtige oft übermässigen Sport. Aus der panischen Angst dick zu werden entwickelt sich oft zusätzlich eine Art Sportsucht.Ein Mangel an Selbstvertrauen zeigt sich bei bulimischen Frauen in der Einstellung zum eigenen Aussehen. Diese ist eher Negativ und gezeichnet durch die Angst einer Gewichtszunahme. Der Eindruck, nicht attraktiv zu sein, löst Verunsicherung und einen Verlust des Selbstwertgefühls aus. Aus diesem Grund wird viel Wert auf die Verschönerung des äusseren Erscheinungsbildes gelegt, die Motivation das Schönheitsideal zu erreichen ist sehr gross. Hier stellt sich natürlich die Frage nach den Ursachen dieser Erkrankung. Erklärungsansätze bieten sich auf drei Ebenen an: Gesellschaft, Familie und Persönlichkeit. In unserer Gesellschaft scheint es einen fruchtbaren Boden für diese fast epidemieartige Ausbreitung der Ess-Brech-Sucht zu geben. Als eine Ursache kann der Schlankheitskult der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Im Rahmen des feministischen Ansatzes - Kritik der Ungleichbehandlung von Frau und Mann in unserer Gesellschaft - wird davon ausgegangen, dass bulimische Frauen ganz mit der traditionellen weiblichen Geschlechtsrolle verschmolzen sind. Diese Aussage kann jedoch in Untersuchungen nicht bestätigt werden. "Gerade bulimische Frauen haben grosse Schwierigkeiten, sich unangenehme Gefühle wie Wut, Ärger, Traurigkeit, Langeweile einzugestehen und sie zu zeigen. Dahinter stehen meist - neben dem Bedürfnis, es jedem recht machen zu wollen - erlernte Lebensregeln, die das Äussern bestimmter Gefühle verbieten." (3)Ein weiterer Erklärungsansatz zur Ursache von Bulimie ist die Familie. Bulimie wird als Resultat einer gestörten Familienatmosphäre betrachtet sowie als Ausdruck einer schwierigen Mutter-Kind-Beziehung. Der dritte Erklärungsansatz setzt bei der psychischen Struktur einer Bulimikerin an. Forschungsergebnisse können jedoch keinen sicheren Aufschluss darüber geben, ob es die bulimische Persönlichkeit überhaupt gibt. Relativ häufig beobachtet wurden: Probleme, Stress zu bewältigen; Depressionen; mangelnde Selbstkontrolle und Suchtverhalten; Perfektionismus und Zwanghaftigkeit, geringes Selbstwertgefühl und Kontaktprobleme sowie ein negatives Körperbild. Diese Merkmale unterstützen die Annahme, dass Bulimikerinnen sich auch in anderen Bereichen als dem Essverhalten von anderen Menschen unterscheiden.Die Häufigkeit der Ess-Brech-Sucht hat in letzter Zeit auch bei den Männern stark zugenommen. Nach neueren Forschungsresultaten sind es sogar bis zu 4 Prozent der Männer, die ihr Gewicht gelegentlich bis häufig durch selbstinduziertes Erbrechen kontrollieren. Der das Schönheitsideal diktierende schlanke Supermensch macht immer weniger auch vor den Männern halt. Der Körperkult hat auch das männliche Geschlecht eingeholt!Wie wir nun gesehen haben gibt und gab es unterschiedlichste Formen von Essstörungen. Als Kriterien für ein gestörtes Essverhalten gelten: Das Essverhalten ist angstbesetzt, überwiegend aussenorientiert, rigide, chaotisch, abwechselnd rigide und chaotisch, Mittel zur Stressbewältigung, extrem gewichtsabhängig und es kontrolliert die Gedanken.(4)Die erwähnten Essstörungen können oft nicht einzeln betrachtet werden. Aus einer rigorosen Diät kann Magersucht entstehen, die Magersucht wird durch Fressanfälle unterbrochen und diese sollen durch Erbrechen, Abführmittel oder übermässigen Sport wieder rückgängig gemacht werden usw. Oft löst eine Sucht die andere ab; eine Heilung ist ein langer aber möglicher Prozess."Fressen bis zum Erbrechen, weil das Leben zum Kotzen ist. Hungern bis zum Tode, aus Hunger nach dem Leben. Es gibt viele Motive für die Flucht in die Welt der Diäten, die nicht selten im Käfig einer Sucht endet. Eines steht immer dahinter: die Unerreichbarkeit der geforderten Traumfigur. Und die zunehmende Unfähigkeit, anders zu sprechen als durch den Körper. Gleichzeitig aber sind Frauen in diesem Körper Fremde geworden. Nicht sie selbst bestimmen über ihn, andere diktieren, wie er zu sein hat. So ist die letzte Macht von Frauen oft die Ohnmacht der Selbstzerstörung." (5)Hilfe für Mager- und Ess-Brech-Süchtige Zürich: Universitätsspital, Abteilung für psychosoziale Medizin , Tel. 01/255'’5'2’ Team Selbsthilfe, Tel. 01/ 252'30'36. Beratungsstelle für Essstörungen Tel. 01/ 463'55'66 Basel: Psychiatrische Universitätspolyklinik, Tel. 061/ 692'80'70 Bern: Psychiatrische Universitätspolyklinik, Tel. 031/ 632'88'11 St.Gallen: Selbsthilfegruppe, Tel. 071/ 22'97'16 Literatur Kämmerer, Annette/ Klingenspor, Barbara (Hrsg.): Bulimie. Zum Verständnis einer geschlechtsspezifischen Esstörung. Stuttgart 1989. Kloth, Brigitte: Zum Kotzen. Tübingen 1992. Langsdorff, Maja: Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen. Frankfurt/Main 1992. Orbach, Susie: Anti-Diät-Buch 1+2. München 1989 + 1991. Vandereyken, Walter/ van Deth, Ron/ Meermann, Rolf: Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Esstörungen. München 1992.(zurück zum Text) Wolf, Naomi: Der Mythos Schönheit. Hamburg 1991. Stahr, Ingeborg/ Barb-Priebe, Ingrid/ Schulz, Elke: Esstörungen und die Suche nach der Identität. Ursachen, Entwicklungen und Behandlungsmöglichkeiten. München 1995. Schwarzer, Alice (Hrsg.): Durch dick und dünn. Reinbek bei Hamburg 1984.(zurück zum Text 1)(zurück zum Text 2)(zurück zum Text 3) Becker, Kuni: Die perfekte Frau und ihr Geheimnis. Ess- und Brechsucht: Hilfen für Betroffene und Angehörige. Reinbek bei Hamburg 1994. (zurück zum Text 1)(zurück zum Text 2) Albonico, Catrin: Wer verwandelt das erbrochene Brot. Ein Krankheits- und Heilungsbericht zur Bulimarexie (Ess- Brech- Sucht). Schaffhausen 1994. Linder, Michaela: Sucht und Sehnsüchte. Ein Erfahrungsbericht zur Bulimie. Freiburg im Breisgau 1993. 1 Vandereycken 1992, S. 147 2 Schwarzer (Hg), S. 73 3 Becker 1994, S. 174 4 Becker 1994, S. 20ff 5 Schwarzer 1984, S. 8

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23.01.02 15:39


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