logo
news .. blog .. services .. jobs .. events .. fachvereine .. infos + debatte .. kolloquium .. soz:mag .. texte .. ueber uns .. archiv
flag
home > archiv > SOMA > SS-97-02




Navigation

Suchen

Advanced



[Inhaltsverzeichnis] [vorheriger] [nächster]


Sandra - die Geschichte eines Wechsels

Von Tina Hofmann

"Es gibt zwei Geschlechter nur insofern, als Individuen andere als Männer oder Frauen wahrnehmen und sich selbst als das eine oder andere darstellen. Das Resultat dieser Praktiken ist eine Welt mit zwei Geschlechtern, denen die einzelnen jeweils ausschliesslich und lebenslänglich angehören." (Lindemann 1993, S. 44)

Einer Transsexuellen auf der Spur

Im Rahmen meiner Forschungs- und Lizentiatsarbeit führe ich an der qualitativen Methode orientierte, problemzentrierte Interviews mit transsexuellen Personen durch. Transsexuelle Menschen lassen sich nicht widerspruchsfrei dem einen oder anderen Geschlecht zuordnen, trotzdem haben sie in den meisten Fällen eine äusserst traditionelle Auffassung von Geschlechtsrollen. Sie befinden sich nur einfach im "falschen Körper". Die Suche nach geeigneten InterviewpartnerInnen ist nicht zuletzt durch den offensichtlichen Sonderstatus von Transsexuellen schwierig: Viele sprechen nicht gerne über ihren Geschlechtswechsel, und Transsexuelle vor der Umwandlung leben häufig sehr zurückgezogen.

Bei meiner Suche nach Personen, die für meine Analyse in Frage kommen, habe ich auch einige grosse Schweizer Sexkontakt-Magazine konsultiert. Neben den bekannten Rubriken wie "Sie sucht Ihn" und "Er sucht Sie" existiert eine Rubrik "TS/TV" (Trans-sexuelle, Transvestiten). Die Kontaktanzeigen sind in Inserate mit und ohne finanzielle Interessen unterteilt. Es fällt auf, dass die Angebote von Transsexuellen/Transvestiten vor allem im Bereich der bezahlten sexuellen Dienstleistungen (Prostitution) aufzufinden waren. Zudem inserieren nur Mann-zu-Frau Transsexuelle und Transvestiten. Weiter sind beinahe alle inserierenden Transsexuellen "Frauen mit Penis". Dies ist interessant, da die Mehrheit der transsexuellen Frauen eine ganzheitliche Geschlechtsanpassung, also auch die operative Formung einer Vagina, wünschen. Offensichtlich kommt im sexuellen Dienstleistungsbereich der Transsexualität eine spezielle Bedeutung zu. Sicher spielen auch finanzielle Interessen eine grosse Rolle. Transsexuelle Frauen mit Penis sind eine Seltenheit und befriedigen somit die sexuellen Wünsche einer speziellen Gruppe von hauptsächlich Männern.

Ich untersuchte also zuerst die Angebote "mit finanziellen Interessen", aus einem einfachen, pragmatischen Grund: Es waren jeweils die Telefonnummern der Personen veröffentlicht. Die restlichen Inserate (unter Chiffre) kosteten zehn Franken Weitervermittungsgebühr. Beim Durchlesen der Inserate ging ich systematisch vor: Ich rief zuerst die Telefonnummern aus Zürich und Umgebung an, weil diese Personen für einen Besuch einfacher zu erreichen sind. Der erste Anruf endete beim Telefonbeantworter. Mit dem zweiten Anruf hatte ich Glück. Sandra, das "transsexuelle Topmodel", die Frau mit Penis, war bereit mir ein Interview zu geben - wenn sie nicht gerade Gäste bediente. Wir vereinbarten einen Tag, an welchem ich sie mehrmals anrufen sollte, um ihren Terminplan zu erfahren. Abends um sieben Uhr hatte sie schliesslich Zeit. Ich durfte bei Ihr vorbeikommen.

Sandra hatte eine Zweizimmer-Parterrewohnung mit roten Vorhängen an den Fenstern. Beide Zimmer waren mit Betten ausgestattet. Zudem besass sie eine "Folterkammer" für die "Erziehung" (sadomaso-chistische Sexualpraktik). Sandra trug Netzstrümpfe und einen Minirock, das Décoltée grosszügig präsentierend. Sie war stark geschminkt und wirkte betont feminin. Leider wurden wir beim Interview mehrmals unterbrochen. Eine Bekannte kam auf Besuch, und die beiden stritten sich um finanzielle Angelegenheiten. Dauernd riefen Männer an, die einen Termin vereinbaren wollten, und einmal kam sogar ein Gast vorbei. Ich sollte in der Küche warten, während Sandra sich mit ihm beschäftigte. Er wollte dann aber doch nicht ihre Dienstleistung in Anspruch nehmen, sie war ihm noch zu jung. Er ging er wieder, und wir konnten das Interview zu Ende führen. Diese Zwischenfälle unterbrachen leider häufig den Erzählfluss. Sandra aber zeigte Interesse und Bereitschaft, mir von ihrem Leben zu erzählen und meine Fragen zu beantworten. Sie machte auf mich einen sensiblen, sympathischen Eindruck. Sandra erzählte mir, dass sie sich eigentlich keine vollständige Geschlechtsumwandlung wünsche, sie sei mit der momentanen Situation zufrieden, das sei etwas Spezielles. Sie fühle sich trotz Penis als Frau. Sandra war zum Zeitpunkt des Interviews 49 Jahre alt und hauptberuflich im Sexgewerbe als transsexuelle Prostituierte tätig. Sie war in Zürich aufgewachsen und lebte hier.

Sandra: Geschichte einer Identität zwischen Mann und Frau

Sandra erzählt, dass sie schon als Kind eher das Verhalten eines Mädchens gehabt habe. Ihre KameradInnen im Kindergarten hielten sie für ein Mädchen, nicht für einen Jungen. Sie wuchs immer mehr in diese Rolle hinein, spielte mit Puppen, wollte immer lieber ein Mädchen sein. In der Schulzeit war Sandra wie ein Junge angezogen. Aber wenn es niemand merkte, am Mittwochnachmittag zum Beispiel, trug sie jeweils Mädchenkleidung und eine Perücke und zog los. Meistens nur, wenn es regnete, denn mit dem Regenschirm konnte sie ihr Gesicht verdecken. Abends, bevor die Mutter heimkam, ging sie wieder nach Hause. Die Mutter bemerkte jeweils, dass ihre Sachen nicht mehr am richtigen Ort verstaut waren, aber Sandra verneinte die Frage, ob sie wisse, wo sich die Kleider befinden, immer. Mit der Zeit aber entdeckte es die Mutter trotzdem. Im Gegensatz zum Vater akzeptierte sie das Crossdressing ihres Sohnes gut. Sandra beschreibt ihren Vater als "eher so der Böse". Die Eltern liessen sich scheiden. Der Vater war Alkoholiker und "deshalb ging es nicht mehr länger". Sandra wohnte danach bei der Mutter. Auch dort trug sie hin und wieder Frauenkleidung. Die Mutter ging sogar mit ihr mit, auch sie war der Meinung, dass es Sandra eigentlich besser stehen würde, wenn sie ein Mädchen wäre.

Sandra konnte keine Lehre machen. Nach der Scheidung musste die Mutter arbeiten gehen und verdiente nur wenig. Sandra musste deshalb früh eigenes Geld verdienen. Sie arbeitete als Hilfsmechaniker.

Ein paar Jahre später hatte sie "grosses Pech", sie verlor eine weitere Stelle. Später mietete sie eine eigene Wohnung. Sie wollte selbständig leben. Ihre Mutter wurde alt und musste ins Pflegeheim.

Sandra kleidete sich damals in der Freizeit immer wie ein Mädchen. Sie fragte sich, was man wohl machen könne, um eine richtige Frau zu werden. Sie hatte keine Beziehungen und niemand konnte ihr weiterhelfen. Sie war schon 35 Jahre alt und wusste immer noch nicht weiter. Doch eines Tages lernte sie durch einen gemeinsamen Bekannten eine Kollegin kennen, mit der sie später dann zusammenzog - auch diese war damals noch ein Mann. Aber sie wollte, genau wie Sandra, schon lange eine Geschlechtsumwandlung machen. Sandra und ihre Kollegin, damals beide noch Männer, diskutierten über eine Geschlechtsanpassung. Sie wollten es gemeinsam durchstehen. Sie gingen beide zum gleichen Psychiater. Sandra erhielt ein Gutachten und durfte zur Behandlung ins Inselspital Bern. Dort operierten sie ihr die Eier aus den Hoden heraus und machten eine Hormonbehandlung. Die Kollegin aber erhielt keine Behandlung. Sie musste nach Marokko fahren, um sich dort ohne Gutachten operieren zu lassen. Das alles kostete sie etwa 2000 Franken. Die Kosten für Sandras Operation übernahm higegen die Krankenkasse.

1990, als die beiden Kolleginnen zusammen eine Wohnung bezogen, mussten sie feststellen, dass alleine mit der Kastration und den Hormontabletten "auch nicht das Wahre erreicht war". Sie fuhren mit einer Therapie in Spritzenform fort. Durch die Spritzen wollten sie ein weibliches Aussehen erhalten. Aber Sandra stellt fest, sie und ihre Kollegin hätten dies eigentlich nie erreicht.

Sie seien immer nur halb Frau gewesen.

Dann fanden sie einen Chirurgen, dessen Namen sie niemandem nennen durften. Sie liessen "im Gesicht aufbauen". Sandra erzählt, es gebe Implantate, die von innen eingebaut würden (durch einen Schnitt innerhalb der Wange). Zudem gebe es die Möglichkeit, von aussen Kunststoff einzufügen. Sie betont, dass ihre Gesichtsimplantate besser seien als solche aus Silikon. Silikon werde sehr bald hart und sei nicht gut für die Gesundheit. Zudem müsse man zwischen zwanzig- und dreissigtausend Franken dafür bezahlen. Die Injektionen, die sie erhalten habe, würden ein Leben lang halten. Für die Spritzen habe sie jeweils dreihundert Franken bezahlt, sie seien nicht von der Krankenkasse bezahlt worden.

Sandra liess sich auch die Augen operieren und die Augenbrauen färben. Die Narben sieht man heute fast nicht mehr. Dies Alles sei aber eher Luxus, den man zusätzlich machen lasse, erklärt Sandra. Sie habe sich auch den Busen vergrössern lassen. Dafür habe man früher auch Silikon genommen. Aber bei ihr sei eine Salzlösung "eingebaut" worden. Das sei eine "super Sache", meint sie. Die Brüste würden das ganze Leben über weich bleiben, "so wie es die Frau eben habe". Sandra kann sich nicht vorstellen, jemals wieder als Mann zu leben. Sie fühlt sich in der Frauenrolle, der Mädchenrolle, sehr viel wohler. Das betreffe die Seele, die Psyche. Aber dies habe noch lange nichts zu bedeuten, denn Probleme, von denen habe man ja als Mann oder Frau so oder so genug.

Ich frage Sandra, was sie persönlich für den Unterschied zwischen Mann und Frau halte. Das sei schwierig, gibt sie zur Antwort. Vorher am Telefon habe sie männlich gesprochen. Die Stimme, das sei es eben. Ihre Bekannte habe zu ihr am Telefon gesagt, sie sei ja gar nicht mehr die Sandra, sondern der Sandro. So wie sie in der Küche geschimpft habe, das sei gar nicht weiblich, meint sie. Aber sie kenne noch viel resolutere Frauen. Die würden "die Spaghettischüssel samt Pfännchen zum Fenster hinauswerfen". Sie kenne da Geschichten von ihren Kunden, die mit richtigen Hexen verheiratet seien. Aber wieder auf den Unterschied zwischen Mann und Frau bezogen meint Sandra, dass sie sich gar nicht vorstellen könne, mit mir dazusitzen und wie ein Mann auszusehen. Sie will wissen, ob ich sie als Frau sehe. Ich bejahe. Sie erzählt, dass sie sich manchmal frage, ob man ihr durch ihr Verhalten "etwas anmerken könne". Sie könne das ja gar nicht beurteilen, weil sie ja täglich sich selbst sei. Das müsse ihr jemand anders sagen, ich, zum Beispiel. Sie will wissen, ob sie denn in meinen Augen ein frauliches Verhalten habe. Ich bejahe erneut. Sie findet, dass sie dies selber schon einigermassen kontrollieren könne, aber eben nicht ganz.

Ich frage sie, warum sie denke, dass sich Männer anders als Frauen verhielten.Sie erwidert, dass es ja auch Frauen gebe, die sich wie Männer verhalten. Es gebe richtige Frauen, solche, die als Frau geboren würden. Aber dann gebe es auch Mädchen, die sich wie Männer verhielten und Männer die sich wie Frauen verhielten, und eben auch Trans-sexuelle.

Die Ursache, warum einige Leute eine Geschlechtsumwandlung machen und andere nicht, liegt in Sandras Meinung in der Psyche, der Seele. Das käme durch den Charakter. Es gebe ja auch Leute, die seien bisexuell, schwul oder lesbisch. Früher habe man das als anormal bezeichnet. Heute sei die Gesellschaft in der Hinsicht etwas offener. Transsexuelle Frauen seien zum Teil akzeptiert, nur von gewissen konservativen Leuten weniger. Von den Schwulen habe man früher schwer Abstand gehalten, heute sei das auch nicht mehr so schlimm wie früher.

Für Sandra kommt ihre Transsexualität "einfach aus einem Gefühl heraus". Sie bezeichnet sich als bisexuell. Sie könne mit einem Mann wie auch mit einer Frau "etwas machen". Sie könne sich vorstellen, einen Mann als Partner zu haben, einen Freund. Sie könne sich sogar vorstellen, einmal zu heiraten. Sie könne sich aber auch vorstellen, mit einer Kollegin zusammenleben und nicht verheiratet zu sein - "bisexuell eben". Ihr sei vor allem der Charakter wichtig, "wer die Person ist". Wenn ihr jemand Zuneigung gebe, oder Liebe, dann könne sie sich eine Partnerschaft gut vorstellen. Auch wenn sie eine Geschlechtsumwandlung "zu fünfzig, sechzig Prozent" gemacht habe.

Sandra lebte sechs Jahre mit der Kollegin zusammen, die auch eine Geschlechsumwandlung machte. Eine sexuelle Beziehung war das aber eher nicht. Sie hatten eine gute Freundschaft, erlebten gute und schlechte Zeiten zusammen. Ihre Kollegin wollte aber selbständig werden und seit einigen Wochen wohnt Sandra alleine. Während der Operationen war die Beziehung zur Kollegin sehr schwierig. Es sei ein sehr, sehr harter Weg gewesen, meint Sandra. Die Kollegin würde die Behandlung nicht noch einmal machen. Sie selbst würde es wieder machen, aber anders anpacken. Sie sei noch unerfahren gewesen, habe nicht die richtigen Ärzte gehabt.

Sandra betont, dass man auf der Strasse schon von weitem, von hundert Meter oder noch mehr, sehen kann, ob ein Mann oder eine Frau daherkomme. Bei Transvestiten, Männern in Frauenkleidung, sehe man das schon von einem Kilometer. Da merke man, "dass etwas nicht stimmt". Das sei hart, man werde von den Leuten einfach nicht akzeptiert wenn die merken, "dass du dich umbaust". Diese Phase musste Sandra durchmachen, und es war sehr hart für sie. Alle Leute schauten ihr nach, wenn sie einen Mini und Strümpfe trug. Sie spürte, dass die Leute merkten, "dass etwas nicht stimmt". Direkte Konfrontationen hingegen hatte sie nie. Ausländer waren meist skeptisch, "die gafften blöd". Sandra betont, dass einen das "ziemlich runterbringt", wenn man eine Umwandlung mache. Wenn man sich als Frau fühle und einem dann solche Dinge wiederfahren, das sei seelisch, psychisch schwer.

Zum Psychiater geht Sandra schon jahrelang nicht mehr. Die Kollegin war zwischendurch bei einem städtischen Psychiater. Sandra geht aber nicht mehr dorthin, weil sie als Mann schon einmal dort war. Die von der Stadt kennen sie noch aus der Zeit, als sie Schwierigkeiten mit den Arbeitsstellen hatte. Das Bedürfnis hat sie irgendwie schon gehabt, es wäre auch gut für sie gewesen, wenn sie eine Begleitung gehabt hätte. Sie hat niemanden, zu dem sie gehen kann. Die Eltern sind früh gestorben und bei den Verwandten wird sie nicht akzeptiert. Diese halten von der ganzen Sache Abstand, sehen Sandra "als Spinner". Sie haben auch den Kontakt zu ihr abgebrochen, finden, Sandra mache "einen Seich mit kastrieren lassen und Busen und so". Die Beziehungen sind also immer mehr auseinandergebrochen.

Sandra findet, dass es bis jetzt ein sehr sehr harter Weg war. Sie hofft, dass es in Zukunft besser wird. Sie wünscht sich einen guten Partner, mit dem sie eine Beziehung aufbauen könnte. Nicht wegen dem Sex, "es geht ja im Leben nicht immer nur um den Sex". Transsexualität kommt einfach aus dem Gefühl heraus

Der Versuch einer kurzen Interpretation

"Selbst als unmittelbare leibliche Erfahrung, gewissermassen unter der eigenen Haut, hat eine Person ihr Geschlecht nicht allein, um umgekehrt wird die soziale Struktur Geschlecht nur in und durch die leibliche Erfahrung real. Eine Veränderung des eigenen Geschlechts kann deshalb nicht ohne eine Veränderung der geschlechtlichen Erfahrung aller Beteiligten vonstatten gehen" (Lindemann 1993, S. 52) Sandra wuchs im Verlauf ihrer Sozialisation immer mehr in die Frauenrolle hinein. Das Bedürfnis, ein Mädchen zu sein, hatte sie, seit sie sich erinnern kann. Sandras Jugend verlief problematisch: Die Eltern liessen sich scheiden, der Vater war Alkoholiker, es war kein Geld da, Sandra konnte keine richtige Ausbildung machen. Dazu kam ihre Transsexualität. Sandra hatte eine innige Bindung zu ihrer Mutter. Die Mutter scheint eine der wenigen Personen gewesen zu sein, die Verständnis für Sandras Transsexualität aufbrachte. Den Schritt zur Geschlechtsumwandlung wagte Sandra erst, als sie jemanden mit den gleichen Bedürfnissen kennenlernte. Diese Bekanntschaft war für ihren weiteren Lebensweg mit Sicherheit von grosser Bedeutung.

Sandras Lebensweg zeigt sehr gut auf, wie stark sich transsexuelle Personen an tradititonellen Geschlechts-Stereotypen orientieren. Sandra und ihre Kollegin haben unzählige Operationen hinter sich, die sie dem weiblichen Idealbild näher bringen sollten. Interessant ist zudem, dass für Sandra die Gewissheit, eine Frau zu sein, von aussen bestätigt werden muss. Es ist ihr offenbar sehr wichtig, wie andere Personen sie wahrnehmen. Weiter gibt sie an, dass die Ursachen für die Transsexualität von innen kommen, aus der Psyche, der Seele. Dies scheint aus phänomenologischer Perspektive diffus, da Identität etwas darstellt, dass in dialektischer Beziehung zur Gesellschaft und in gesellschaftlichen Prozessen geformt wird (Berger und Luckmann 1980: 185). Der Bezug zu einem abstrakten, religiösen Begriff wie "Seele" zeigt auf, dass Sandra ihre Transsexualität nicht rational reflektiert. Dies ist, zumindest aus der Perspektive der Betroffenen, auch äusserst schwierig. Lindemann (1993) formuliert eine mikro-soziologische Perspektive, die den Begriff des Leibes in den Mittelpunkt stellt. Die Stabilität der sozialen Struktur Geschlecht hängt grundlegend vom Verhalten der Beteiligten ab. Lindemann zeigt auf, dass "die Unterscheidung von zwei Geschlechtern anhand der Körper ein Wissen um die Geschlechterdifferenz und deren Wichtigkeit voraussetzt" (ebd., S. 45). Sie betont, dass die Geltung dieser Vorraussetzung an den Körpern bestätigt wird. Sandra weiss um die Wirksamkeit der Kategorie Geschlecht. Als Mensch mit weiblichem Rollenverhalten möchte sie dieses auch in einem weiblichen Körper zur Geltung bringen. "In diesem Kontext sind Gesten, Körper, Kleidung, Personalpronomen oder auch Sätze wie ‘Ich bin eine Frau’ indexikalische Ausdrücke des Sachverhalts, dass jede Person eine sinnvolle Erscheinung in einer Welt mit zwei Geschlechtern ist." (ebd., S. 45-46) Sandra erfuhr am eigenen Leib, inwiefern die an einer Interaktion Beteiligten die Wirklichkeit konstituieren. Vor ihrer Geschlechtsumwandlung wurde sie oft für einen Transvestiten gehalten und hatte mit deprimierenden Reaktionen von aussen zu kämpfen. Dies obwohl sie sich selber als Frau wahrnahm. Lindemann beschreibt diese für die Betroffenen komplizierte Situation (ebd., S. 51): Wenn sich Transsexuelle an einer Interaktion beteiligen, gehen sie nicht unmittelbar darin auf, sie sind in das System von Gleich- und Verschiedenheit verhackt. Dies lässt sich folgendermassen veranschaulichen: Sandra, die verlangt, als Frau erlebt zu werden, fordert von Frauen, sie als das gleiche und nicht mehr als das andere, und von Männern, sie als das andere und nicht mehr als das gleiche Geschlecht wahrzunehmen. Dass die Aussenwelt mit dieser Situation häufig überfordert ist, bezeugen die Aussagen von Transsexuellen. Wie auch bei Sandra distanzieren sich Freunde und Familie in den meisten Fällen und brechen den Kontakt mit der betroffenen Person ab. Zudem ist das Angebot an professionellen Hilfeleistungen nicht ausreichend vorhanden.

Auch in Bezug auf ihre Sexualität macht Sandra interessante Aussagen. Sie gibt an, bisexuell zu sein. (Als eine der wenigen inserierenden Prostituierten "verwöhnt" sie auch Frauen). Es scheint, dass Sandra schon seit längerer Zeit keine privaten sexuellen Beziehungen mehr pflegt. Dies könnte etwas mit ihrer Tätigkeit als Prostituierte zu tun haben. Sexualität in der Beziehung ist für Sandra auch nicht wichtig. Bisexuell kann für Sandra also auch heissen, dass sie sich eine Freundschaft oder Partnerschaft mit einem Mann und einer Frau vorstellen könnte, in welcher sie einen gemeinsamen Haushalt führen und sich gut verstehen.

Anmerkung:

Namen, Ortsnamen etc. wurden von der Autorin dieses Beitrags geändert.

Literatur:

Lindemann, Gesa: Wider die Verdrängung des Leibes aus der Geschlechtskonstruktion. In: Feministische Studien, 11. Jhg, Nr. 2. Deutscher Studien Verlag, 1993.
Berger, Peter L.; und Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Fischer Taschenbuch Verlag, 1980.

[Inhaltsverzeichnis] [vorheriger] [nächster]


Diese Seite druckenSeite als E-Mail verschicken

23.01.02 15:39


news | blog | services | jobs | events | fachvereine | infos + debatte | kolloquium | soz:mag | texte | ueber uns | archiv