logo
news .. blog .. services .. jobs .. events .. fachvereine .. infos + debatte .. kolloquium .. soz:mag .. texte .. ueber uns .. archiv
flag
home > archiv > SOMA > SS-97-03




Navigation

Suchen

Advanced



[Inhaltsverzeichnis] [vorheriger] [nächster]


Der Bedeutungswandel

 der Onanie im 20. Jahrhundert

Von Tina Hofmann

Im Bereich der Sexualität hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ein entscheidender Wandel vollzogen. Die Sexualität dient in unserem Jahrhundert in zunehmenden Masse der Selbstverwirklichung, sie hat sich also stetig von der Reproduktion abgelöst. Auch in Bezug auf die Onanie haben sich die gesellschaftlichen Auffassungen entscheidend verändert. In einer Seminararbeit bei Prof. Dr. M. Buchmann habe ich unter anderem den Bedeutungswandel der Onanie theoretisch hinterfragt und an einigen empirischen Beispielen aufgezeigt. Für den illustrativen Teil habe ich drei verschiedene Quellen bearbeitet, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in diesem Jahrhundert entstanden sind, und sie auf ihren jeweiligen Bedeutungsgehalt hin untersucht. Der Bedeutungswandel der Sexualität im allgemeinen enthält auch eine geschlechtsspezifische Komponente und muss im Zusammenhang mit der sich verändernden Geschlechtsidentität der Männer und Frauen im 20. Jahrhundert gesehen werden.

Die Genese der Sexualwissenschaften

André Béjin beschreibt in seinen beiden Artikeln "Niedergang der Psychoanalytiker, Aufstieg der Sexologen" und "Die Macht der Sexologen und die sexuelle Demokratie" womit sich die Sexualwissenschaften der Moderne hauptsächlich beschäftigen und welche Inhalte zentral sind. Zudem stellt er den Zusammenhang zur Macht her, die diese Wissenschaft auf unsere Gesellschaft ausübt. Bei Béjin stehen die Bereiche "Orgasmus" und "Onanie" im Zentrum seiner Analyse. Béjin unterscheidet zwei Geburten der Sexualwissenschaften (Sexologie). Das erste Mal gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Diese "erste" Sexologie kümmerte sich hauptsächlich um Geschlechtskrankheiten, die Psycho-pathologie der Sexualität und die Eugenik. Ziel dieser Form der Sexualwissenschaft war das Ausmerzen von sexuellen Abweichungen und "Perversionen" (z.B.Geschlechtskrankheiten, Homosexualität) und die Aufrechterhaltung der christlichen Moral. Den Ursprung unserer heutigen, zweiten Sexologie datiert Béjin etwa zwischen 1922 und 1948 (Erscheinung des ersten Werkes von Kinsey). Diese Form der Sexual-wissenschaft und Orgasmologie bricht auch mit der Tradition der Pathologisierung der Onanie. Die Masturbation wird von den OrgasmologInnen als eine normale Lustquelle gesehen, die zur Ergänzung und Anregung der übrigen sexuellen Aktivitäten dienen kann; überdies tauge sie als Hilfsmittel gegen bestimmte Störungen sowie zur deren Vorbeugung (zum Beispiel der Frigidität). Béjin bezieht sich in diesem Punkt auf SexologInnen, die sich einen "Plan für die sexuelle Karriere" ausdachten: Wer in seiner Jugend nicht ausreichend masturbiert oder zögert, zu den vielfältigsten Formen sexueller Befriedigung zu greifen, erhöht das "Risiko" sexueller Funktionsstörungen. SexologInnen haben also der Masturbation eine besondere Rolle zugeschrieben. Gerade die Masturbation erschliesst den Zugang zu einer ersten Stufe sexueller und psychischer Reife, die ihrerseits die Möglichkeit zu befriedigenden sexuellen Beziehungen eröffnet. Das Erlernen der Masturbation geht demnach dem Erlernen der partnerschaftlichen Sexualität voraus. Béjin betont, dass schon Kleinkinder ihre Sexualität beim Masturbieren entdecken. Die zweite wichtige sexuelle Reifungsphase sei die Pubertät. SexologInnen betonen, dass Jugendliche, die diese Phase der Masturbation nicht durchgemacht haben, als Erwachsene häufiger mit sexuellen Schwierigkeiten rechnen müssen als andere.

Die Bedeutung von Onanie - eine exemplarische Untersuchung

Meine Quellen decken drei Zeitpunkte dieses Jahrhunderts ab. Die Jahrhundertwende (1906 und 1910), die Zeit zwischen erstem und zweiten Weltkrieg (1932) und die unmittelbare Gegenwart (1995).

Die ältesten Quellen sind die beiden Aufklärungsbücher aus dem Jahre 1909: "Was ein Knabe wissen muss" bzw. "Was ein junges Mädchen wissen muss" . Diese beiden Werke sind für junge Erwachsene in dieser Zeit geschrieben worden. In einer Sprache, die reich an Metaphern aus dem Katholizismus ist, wird den damaligen Adoleszenten erklärt, was es mit der Fortpflanzung auf sich hat, wozu ihre Geschlechtsteile da sind und wie sie ihren Körper und Geist gesund halten können. Die später folgenden ausgewählten Zitate sind fragmentarisch und beispielhaft.

Die zweite bearbeitete Quelle stammt aus einem Buch von Horkheimer, Fromm und Marcuse . Es handelt sich dort um einen Fragebogen der im Jahre 1932 an 360 deutsche Spezialärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten, Frauenleiden und nervöse Störungen versandt wurde. Die Autoren wollten in ihrer Untersuchung die Sexualmoral der Nachkriegszeit untersuchen.

Der dritte Untersuchungsgegenstand ist das 1995 erschienene spektakuläre Buch von Klaus Heer: "Ehe, Sex & Liebesmüh" . Klaus Heer ist Paartherapeut. Er interviewte in seinem Werk zwanzig verheiratete Männer und Frauen zwischen 33 und 74 Jahren zu ihrer praktizierten Sexualität. Alle interviewten Personen sind zwischen zehn und 51 Jahren verheiratet. Alle haben ein oder mehrere Kinder. Sie bilden eine Stichprobe traditioneller Lebenssituationen (keine Singles, keine Homosexuelle, etc.).

Meine Hypothesen zur Onanie lauteten wie folgt:

1. Im Bereich der Thematisierung der Onanie hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entscheidendes verändert: War sie zu früherer Zeit verboten und mit Tod und Verderb in Zusammenhang gebracht, hat sie für die befragten Personen bei Klaus Heer eine andere Bedeutung. Onanie ist für die befragten Personen in zunehmendem Masse ein integrativer und natürlicher Bestandteil ihrer Sexualität.
2. Vorwiegend bei den älteren befragten Personen (Heer, 1995) sind Überbleibsel der restriktiven Sexualmoral aus früherer Zeit zu entdecken, die sich in der Thematisierung von Onanie widerspiegeln.

Zitate aus: Sylvanus Stall: Was ein Knabe wissen muss (1906)

Neunter Brief: "Mein lieber Heinrich! Gott gab dem Menschen Hände, aber er verlieh ihm auch Vernunft, das sittliche Gefühl und das Gewissen, damit er sie in rechter Weise gebrauchte. Mit Hilfe der Hände sollte er sich nach Gottes Willen weit empor über die anderen Geschöpfe erheben. Und dennoch, bis weit unter das niederste Tier finden viele Männer und leider auch Knaben gerade durch einen Missbrauch ihrer Hände herab! Anstatt mit ihnen das zu tun, was sie als vernunftbegabte und sittliche Wesen damit tun sollten, gebrauchen sie die Hand dazu, ihren Körper zu beflecken. Sie fassen damit an ihr Geschlechtsglied und spielen daran, um eine besondere Empfindung, ein gewisses Gefühl hervorzurufen, das für den Augenblick wohl angenehm ist, aber die ernstesten Schäden für ihre sittlichen und geistigen Kräfte und für ihre Gesundheit nach sich zieht. Man nennt diese Gewohnheit Selbstbefleckung oder Masturbation. Aber Gott hat uns dieses Glied nicht zu solchem Missbrauch verliehen." (S. 86-87)
Zehnter Brief: "Mein lieber Heinrich! In meinem letzten Briefe habe ich davon gesprochen, dass viele Knaben, jüngere und ältere, ihren Körper schänden und beflecken, indem sie in unnützer Weise und zu ihrem grossen Schaden an ihr Geschlechtsglied fassen und daran herumspielen und reiben. Nach Gottes Absichten hat nun aber dieses Glied eine doppelte Bestimmung: seine erste ist, zur Ausscheidung der wertlosen und verbrauchten Flüssigkeiten aus dem Körper zu dienen, und seine zweite liegt darin, dass es einen Teil des Fortpflanzungsorganismus bildet." (S. 93)
Elfter Brief: "Wo solche ungünstigen Verhältnisse vorliegen und aus Unkenntnis nicht beseitigt werden, da bildet sich die Selbstbefleckung leicht zu einer steten Gewohnheit aus und wird schliesslich mit solcher Leidenschaft betrieben, dass Verblödung und Tod eintreten können und häufig wirklich erfolgen." (S. 107)
Zwöfter Brief: "Von dem verzweifelt hilflosen Zustand, in welchen ein Knabe, bei dem dieses Laster zur hartnäckigen Gewohnheit geworden ist, schliesslich gerät, kannst Du Dir daraus eine Vorstellung machen, dass man ihn, um ihn an einer Wiederholung seiner lasterhaften Handlungen zu hindern und wenn möglich, dauernd von dem Übel zu befreien, oft in eine Zwangsjacke stecken oder seine Hände auf den Rücken oder an die Bettpfosten binden oder mit Stricken und Ketten an Ringe in der Wand befestigen muss." (S. 119-120)

Zitate aus: Mary Wood-Allen: Was ein junges Mädchen wissen muss. (1910)

19. Kapitel. Geheime Laster: "Sobald die Geschlechtsorgane in ihre Funktionen eintreten, wird sich ihnen naturgemäss die Aufmerksamkeit des jungen Mädchens zuwenden; man muss sich dann ernstlich bemühen, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Romanlektüre ist, wie ich schon einmal erwähnt habe, höchst nachteilig. Die Beschreibungen leidenschaftlicher Liebeszenen rufen in den Geschlechtsorganen der Leserin Erregungszustände hervor, die diese Organe zu erhöhter Tätigkeit anreizen und ihre Gesundheit zerstören. Junge Mädchen werden oft früher als nötig zur Reife gebracht, weil ihre Sinnlichkeit durch Romanlesen, durch die Anspielungen ihrer Freundinnen auf Liebhaber, durch sentimentale Phantasien, in denen sie sich ergehen, ungebührlich gereizt und erregt wird. Solche Erregungen führen manchmal zu der schlechten Gewohnheit, die unter dem Namen Selbstbefleckung bekannt ist. Die Reizung der Geschlechtsorgane ist von einer angenehmen Empfindung begleitet. Sie kann durch mechanische Mittel, ja schon durch blosse Gedanken hervorgerufen werden. Viele Mädchen, die dieser verderblichen Gewohnheit verfallen sind, ahnen die Gefahren nicht, die ihnen drohen, obgleich sie intuitiv fühlen, dass niemand etwas davon erfahren darf, was sie treiben." (S. 142-143)

"Die Selbstbefleckung hat höchst unheilvolle Folgen. Sie zerstört die geistigen Kräfte und das Gedächtnis, sie verursacht einen unreinen Teint und macht die Augen trübe, sie zehrt an den Körperkräften und kann sogar zum Wahnsinn führen. Es ist eine Gewohnheit, die schwer auszurotten ist, die jahrelang andauern und sich sogar auf die Kinder vererben kann." (S. 143)

"Die Zeugungsorgane sind der Sitz ausserordentlich reizbarer Nerven. Ihre Erregung, sei sie nun durch mechanische Mittel örtlich hervorgerufen oder aber auf geistigem Wege entstanden, ist von angenehmen Empfindungen begleitet. Bei kleinen Kindern wird manchmal eine derartige Reizung durch mangelnde Sauberkeit der äusseren Organe verursacht. Das Kind versucht dann den Reiz durch Reiben zu lindern. Dadurch entsteht ein angenehmes Gefühl, das Reiben wird wiederholt, und es bildet sich schliesslich die schlechte Gewohnheit der Selbstbefleckung." (S. 144)

"Die einzige natürliche Form, in der das Geschlechtsgefühl erweckt werden darf, hat Gott der Herr in der heiligen Ehe eingesetzt, und ein Mädchen, das sich selbst achtet, fühlt wohl, dass jedes andere persönliche Eingreifen weder recht noch anständig ist." (S. 146)

Zitate aus: Studien über Autorität und Familie (1932)

Warum ist die Onanie schädlich?

"Ist nur schädlich im Übermass. Gelegentlich (etwa wöchentlich 1 - 2 Mal) Traumentladung oder im Anschluss an Träume im Selbstbewusstsein sind unvermeidlich. Alle provozierten Entladungen im reinen Wachzustand sind zu vermeiden, hier und da können sie passieren. Zu häufige (abhängig vom Naturell und der Art, wie es vertragen wird) Entladungen sind körperlich und seelisch ruinös." (S. 283)
"Die Onanie ist nicht so schädlich, wie vielfach behauptet wird. Aber sie hat zweifellos ihre Schäden: 1. Wird sie aus begreiflichen Gründen viel häufiger als ein normaler Koitus ausgeübt und führt deshalb leicht zu sexueller Erschöpfung und vorzeitigen Potenzstörungen. 2. Frauen, die masturbiert haben oder noch onanieren, sind beim normalen Verkehr oft frigid (a) aus psychischen Gründen, weil die Frau bei der Masturbation keine Gravidität zu befürchten hat, weil sie sich dabei ihr sexuelles Ideal als Partner vorphantasieren kann etc., (b) weil eine Frau onaniert, wenn sie Lust dazu hat, aber koitiert, wenn der Mann es will, (c) weil durch die Masturbation erogene Zonen bevorzugt werden, die beim Koitus häufig unberücksichtigt bleiben. 3. Einer der grössten Schäden ist die Furcht vor den vermeintlichen üblen Folgen der Onanie." (S. 283)
"Das alte Axiom über die Schädlichkeit der Onanie ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Die Onanie ist die normale Geschlechtsbetätigung der sich entwickelnden Jugend und nicht exzessiv betrieben absolut nicht schädlich. Schädlich ist nur der Gedanke, dass die Onanie schädlich sein könnte. Und die ungezählten Neurastheniker sind auf die Angst zurückzuführen und nicht auf die von ihnen betriebene Onanie." (S. 283)
"Der körperliche Schaden einer nicht zu früh begonnenen und nicht zu intensiv betriebenen Onanie ist - null . Grösser ist der seelische Schaden, weil er vom Weibe wegzieht. Auf diese Weise kann es je nach den Faktoren, die noch hereinspielen, zu Homosexualität und anderen Perversionen, zu Impotenz und zu liebeleerer Begattung (die Frau ist nur Onanierinstrument) kommen." (S. 283)

Zitate aus: Ehe, Sex & Liebesmüh (1995)

Y, 33 Jahre, w: "Befriedigen Sie sich manchmal auch selbst? Selten. Nach den Geburten war es häufiger, als ich eine gewisse Abneigung gegenüber meinem Mann hatte und mir trotzdem sexuell etwas fehlte. Geniessen Sie es nicht besonders? Doch, schon. Aber da sind auch Schuldgefühle. Ich fürchte, mein Mann, der neben mir schläft, könnte mich dabei erwischen (...)." (S. 18)
S, 39 Jahre, w: "Während Ihrer guten Phase onanieren Sie häufig? Ja. Jeden Tag? Ja. Mehrmals am Tag? Wenn möglich, ja. Zwei, dreimal am Tag? Ja. Es gefällt Ihnen wirklich? Mangels einer besseren Alternative, ja. Ich muss froh sein um diese Ersatzmöglichkeit, um nicht ganz zu vertrocknen." (S. 398)
P, 40 Jahre, m: "Befriedigen Sie sich selbst? Wenig - höchstens, wenn zwei Wochen zwischen uns gar nichts läuft. Wenn ich dann massiv unter sexuellem Druck bin, habe ich das Gefühl, jetzt gehe es gar nicht mehr um meine Frau, sondern um Sexualität schlechthin. Dann onaniere ich sehr gern." (S. 196)
K, 50 Jahre, m: "Befriedigen Sie sich selbst? Höchst selten, weil es mir nachher nicht gut geht. Diese verdammte Leere! Ich fühle mich wie ausgelaufen." (S. 390)
D, 61 Jahre, w: "Sie befriedigen sich nicht selbst? Doch, aber nicht so direkt. Ah, sie mögen dort keine direkten Berührungen? Genau, genau! Ich habe es lieber, wenn man die Klitoris ausklammert. (...)" (S. 83)
W, 67 Jahre, m: "Wie war Ihre Sexualität in der ersten Ehezeit? Was mich störte, war, dass ich während unserer Ehe ziemlich viel onaniert habe, und zwar fast zwanghaft. Ich war dann nämlich zu wenig potent. Es störte Sie, dass Sie dann das Pulver schon verschossen hatten? Ja. Ich vermute, es wäre schöner gewesen, wenn ich nicht onaniert hätte. Woran merkten Sie das? Es brauchte jeweils ziemlich viel, bis die Entladung kam." E, 73 Jahre, m: "Genossen Sie die Selbstbefriedigung? Ich weiss, dass ich das eigentlich nicht darf. Wieso? -Ich probiere doch wieder, es mit ihr gut zu haben. Ich erweise ihr Liebes, soweit ich kann. Habe ich denn noch das gleiche Verlangen nach meiner Frau, wenn ich mich selber befriedige? Offenbar schon: Sie befriedigen sich ja... Nein, nein! Seit diesem Jahr gibt's das nicht mehr! Ich war bei einem Seelsorger, und der sagte mir, dass ich das nicht machen solle. Ich will ja wirklich den Schritt auf meine Frau zu wieder tun, verstehen Sie? Genossen Sie die Selbstbefriedigung im letzten und vorletzten Jahr? Im Moment jeweils schon, aber der Frust kam hinterher immer. Schlechtes Gewissen? Ja, es fehlt einem plötzlich die wahre Liebe, und natürlich der Körper der Frau." (S. 63)
M, 74 Jahre, w : "(...) Als ich Ende September zwei Wochen mit einer Freundin im warmen Sizilien war, kam es noch mal zurück, und ich dachte zum ersten Mal: "Wenn ich doch nur den Karli hier hätte!" Und weil er nicht da war, befriedigte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben selber." (S. 425)

Ergebnisse: Onanie - das geheime Laster

Die erste Hypothese hat sich vollumfänglich bewahrheitet. Aus den ersten beiden Quellen ist klar ersichtlich in welch hohem Masse die postulierten Folgen der Onanie - Zerstörung von Geist und Körper - die jungen Menschen erschrecken und einschüchtern konnten. In den Ausführungen für die Knaben fällt zudem auf, dass die bedrohlichen Folgen der Onanie einen grösseren Teil der Lektüre beinhalten. Mädchen wurden im Gegensatz zu den Knaben als wenig oder gar nicht sexuelle Wesen wahrgenommen. In dem Aufklärungsbuch für Mädchen wird deshalb die Onanie einzig in Bezug zur Romanlektüre oder auf Einwirkung von äusseren Faktoren wie Kleidung oder Hygiene thematisiert. Bei den Studien über Autorität und Familie lässt sich eine teilweise Lockerung der restriktiven Moral beobachten. Die befragten Ärzte haben sehr unterschiedliche Meinungen. Das "Onanietabu" scheint sich langsam zu entschärfen. Onanie "im Übermass" wird zum grösseren Teil aber immer noch verurteilt. Zudem wird teilweise noch das Bild aufrechterhalten, dass "zuviel" Onanie zu "sexueller Erschöpfung", "Homosexualität" und "Potenzstörungen" führen kann, und "vom Weibe wegzieht". Bei den Auswirkungen auf Frauen befürchten die befragten Ärzte ebenfalls, dass diese sich wegen der Onanie weniger für ihren Partner interessieren könnten, weil "durch die Masturbation erogene Zonen bevorzugt werden, die beim Koitus unberücksichtigt bleiben". Hier wird die Klitoris angesprochen, die bis weit in die siebziger Jahre hinein als weibliche Lustquelle verneint wurde.

Die zweite Hypothese muss differenzierter betrachtet werden. Bei den Interviews von Klaus Heer fällt auf, dass auch die jüngeren Menschen zum grossen Teil noch ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Onanie haben. Das Zusammensein mit dem/der PartnerIn ist für die befragten nach wie vor wichtiger. Einige plagen Schuldgefühle oder sie fühlen sich hinterher "leer" und "erschöpft". Zudem hat die Onanie für die Männer, einen stark funktionalen Charakter. Diese Vorstellung, dass zuviel Onanie zu sexueller Erschöpfung führen kann, hat sich scheinbar erhalten. Frauen "tun es" seltener oder in einer Weise, dass sie den direkten Körperkontakt vermeiden. Dies ist insofern interessant, als bereits in den Ausführungen zur Onanie im Jahre 1910 nur externe Faktoren als Lustquelle für Frauen diskutiert wurden. Für einen Teil der Befragten ist die Onanie aber auch etwas selbstverständliches und/oder vergnügliches. Ich würde aufgrund meiner Untersuchung noch nicht so weit gehen und die Forderung von Béjin bestätigen, die aussagt, dass die Onanie als "normale Lustquelle" gesehen werden soll. Béjin sagt aus, dass die SexologInnen die Masturbation als ein wesentlicher Zugang zu sexueller und psychischer Reife voraussetzen. In diesem Fall müsste gesagt werden, dass viele der von Heer befragten Personen diese Reife, aufgrund ihres ambivalenten Verhältnises zur Onanie, nicht erreicht haben. Onanie scheint für viele der Befragten nach wie vor einen Tabubereich zu angieren, was vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Verteufelung der Masturbation nicht zu erstaunen vermag. Auffällig ist zudem der eine alte Mann, der "es nicht tun darf", weil Gott es nicht erlauben würde und der deshalb sogar einen Seelsorger aufsucht, und die 74jährige Frau, die es in ihrem Leben erst einmal "getan" hat. Sie können als Zeugen gesehen werden, deren Moral immer noch sehr vom Katholizismus und der restriktiven Sexualität der alten Zeit beeinflusst ist.

In der Sexualität hat sich in den letzten 100 Jahren ein enormer Wandel vollzogen. Die Onanie und der Orgasmus werden in den beiden alten Aufklärungsbüchern ausschliesslich im Zusammenhang mit Reproduktion gebracht. Die "Lebensenergie" darf nicht "vergeudet" werden, sondern ist nur vorhanden, um "ein neues Wesen zu erzeugen". Bei Klaus Heer hingegen kann exakt das Gegenteil festgestellt werden: Reproduktion ist kein Thema mehr (nicht einmal mehr die Verhütung). Eine geglückte Sexualität steht im Zentrum.


[Inhaltsverzeichnis] [vorheriger] [nächster]


Diese Seite druckenSeite als E-Mail verschicken

09.06.06 17:03


news | blog | services | jobs | events | fachvereine | infos + debatte | kolloquium | soz:mag | texte | ueber uns | archiv