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Popmusik im ausgehenden 20. Jahrhundert

Ausdruck der Technologie einer immer schneller werdenden Gesellschaft

Von Tina Hofmann

Natürlich machen die vielfältigen Möglichkeiten moderner Technologien auch vor den Entwicklungen im Musikgeschäft nicht halt. Elektronische Tanzmusik (professioneller ausgedrückt Electronic Dance Music) ist, neben des Techno-Kults, das musikalische Zauberwort der Jahrhundertwende! Die vielbeachtete, hochgejubelte und verteufelte, sowie politisch umstrittene Techno-Bewegung, welche mit rein technologisch erzeugten, unendlich anmutenden, schnell hämmernden sphärischen und aggressiven Klängen, Beats und Samples die letzten Gehirnmassen der Twens und Teens wie Joghurt durchschüttelt und sie mit dem altbekannten, aber neu aufgewärmten Motto Love, Peace und Happieness nächtelang vollkommen unter Beschlag nimmt, steht ausnahmsweise nicht im Zentrum dieses Artikels. Es geht, wie schon erwähnt, um elektronische Tanzmusik im Rahmen der Popkultur.

Electronic Dance Music ist eine Form der durch Computersampling erzeugten Mainstream-Musik, deren InterpretInnen um Top-Plätze in den Hitparaden kämpfen.

Musik, welche, im Gegensatz zur Techno-Bewegung, mit Gesang und teilweise sogar mit politisch-kulturellen Botschaften versehen ist, am Radio gespielt, live einem Publikum präsentiert, und von jedermann/jedefrau gehört wird. Während bei Techno der/die Diskjockey unbeachtet vom Publikum (welches mit seiner Selbstdarstellung ausreichend beschäftigt ist) als KlangerzeugerIn oder MischerIn fungiert, wird Electronic Dance Music, wie Rock- oder Hip Hop Musik auch, von mehreren Personen, also einer sogenannten Band, in deren Mittelpunkt meist ein/e LeadsängerIn steht, produziert und präsentiert. Wie der Begriff aussagt, zeichnet sich die Elektronische Tanzmusik durch technologische Klangerzeugung- und veränderung aus. Ich möchte in diesem Artikel der Frage nachgehen, welchen Einfluss ebendiese technologischen Möglichkeiten auf die heutige Popkultur hat, und welche Perspektiven sich für die Zukunft ergeben, wobei die Hypothese ist, dass, analog zum Wandel vieler gesellschaftlicher Bereiche hier ebenfalls eine Pluralisierung stattfindet.

Mit der Erfindung des Synthesizers und des Computersamplings nahm die Entwicklung von der reinen Rockmusik à la Led Zeppelin oder The Rolling Stones hin zur elektronischen Tanzmusik ihren Lauf. Die Popgruppe Chicago und andere Rock-, Funk- und Popgruppen pflegten bereits Ende der 70er Jahre ihren Sound, mit damals noch einfacheren, aber bereits programmierbaren Synthesizer - Modellen, wie beispielsweise dem legendären Yamaha DX 7, zu erweitern. Während die meisten Gruppen und InterpretInnen die modernen Synthesizer- und Sampling Technologien zur Ergänzung der traditionellen Instrumente wie Gitarre, Bass und Schlagzeug verwendeten, fand in den 80er Jahren der pure Elektroboom statt. Die 80er Jahre sind deshalb das Jahrzehnt der elektronischen Popmusik. In diesem Rahmen, und auch im Zusammenhang mit der sogenannten Neuen Deutschen Welle, produzierten viele Gruppen ausschliesslich technologisch erzeugte Musik. Protagonisten dieser Bewegung, und bis zum heutigen Zeitpunkt ausserordentlich erfolgreich, sind beispielsweise die englischen Gruppen Soft Cell, Pet Shop Boys oder Depeche Mode. Viele Gruppen und InterpretInnen blieben aber mit ihren Hits sogenannte Eintagsfliegen: Paul Hardcastle mit Nineteen, Dead OrOr Aves You Spin Me Round oder The Buggles Video Kills The Radio Star, um nur einige der vielen Beispiele zu nennen.

Auch Schweizer Gruppen wie Yello oder Stephan Eichers Grauuzone waren an dieser Elektro Pop-Entwicklung mitbeteiligt.

Wie die Geschichte der verschiedenen MusikerInnen der 80er Jahre zeigt, wurden die technischen Möglichkeiten immer ausgeklügelter. Sampling und Klangveränderung wurde in zunehmenden Masse möglich. Die im Computer gespeicherten Klangquellen (Wellen/Waves, Samples) lassen sich mit Hilfe von elektronischem Filter, sogenannten Hüllkurven und Modulen etc. verändern und damit lässt sich jeder X-beliebige Sound erzeugen, von traditionellen Instrumenten wie Trompete über Klavier bis hin zu jedem überhaupt möglichen Geräusch, Gehämmer, Gezirpe! Ausserdem muss die Stimme nicht mehr nur eine Stimme sein: mit diversen Effekten sind unzählige Veränderung in Höhe, Tiefe und Intensität möglich. Mit Hilfe von Computerprogrammen wie zum Beispiel Cubase besteht die Möglichkeit, dass Laien, welche kein klassisches Instrument beherrschen, als Einzelpersonen am Bildschirm eine unendliche Bandbreite von verschiedenen Klängen zu einem Lied zusammenkomponieren können. Durch diese Möglichkeiten entstand die Vorstellung, dass elektronische Musik einfacher zu produzieren sei als diejenige, welche mit traditionellen Instrumenten arbeitet. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die sogenannten Retorrtengrppen, welchehe Ende der 80er und anfangs der 90er Jahre in die Musikszene geklotzt wurden: InterpretInnen wie The Modern Talking, Mel & Kim oder Rick Astley eroberten die Hitparaden. Die Kritik an Technik und Musikalität dieser Gruppen ist mit Sicherheit nicht vollkommen unberechtigt. Dass sich solche Gruppen aber nie längerfristig im Musikgeschäft behaupten konnten, zeigt, dass auch im Bereich der elektronischen Musik massive Qualitätsunterschiede bestehen. Es schleichen sich in diesem Genre aber immer wieder Tiefflieger ein, die kurzfristig das grosse Geld machen. Ich denke hier an die aktuellen Dance Floor Gruppen wie Mister President, Captain Jack oder Blümchen!

Es soll hier nicht der Irrtum entstehen, dass sich in den 80ern nur die elektronische Popmusik etablierte, auch viele Rockgruppen- und Interpreten machten Karriere und gehören heute zu den ganz Grossen im Geschäft: zum Beispiel R.E.M, Metallica, Brian Adams oder Bon Jovi. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist, dass in den 90er Jahren die US-AmerikanerInnen hauptsächlich im Bereich des Soul, Funk, Hip Hop und der Rockmusik Erfolge verzeichnen. Neben den eben erwähnten Gruppen, erinnere ich an die Grunge-Band Nirvana, deren Sänger Curt Cobain 1994 Selbstmord beging, oder an die Pop/Funk-Ikone The Prince (oder wie auch immer er sich gerade nennt). Im Gegensatz zu den EuropäerInnen sind die Amis also nie richtig auf die Techno-, House- und Popwelle aufgestiegen. AmerikanerInnen kennen (noch?) keine Street Parades und Technoclubs.

Auch die Electronic Dance Music ist hauptsächlich eine europäische Errungenschaft.

Dies hängt mit der unterschiedlichen sozialen Situation der beiden Kontinente zusammen. Vor allem die Entwicklungen im Rap- und Hip Hop-Sektor zeugen von den für die USA typischen kulturellen Spannungen. Junge Musiker wie zum Beispiel der fettleibige The Notorious B.I.G. werden im Rahmen eines Bandenkrieges auf offener Strasse erschossen. Nichts desto trotz bangen amerikanische Plattenkonzerne um die Publizität ihrer Schützlinge. Dies, weil europäische Elektroprodukte wie beispielsweise die englischen The Prodigy oder der Schweizer D.J. Bobo ihre Platten weltweit besser denn je verkaufen! Die europäische Musikindustrie bildet also in zunehmenden Masse eine wirtschaftliche Konkurrenz für ihr US-amerikanisches Pendant. Dies kommt nicht zuletzt daher, dass viele der europäischen MusikerInnen äusserst flexibel in der ergänzenden Handhabung von elektronischen, sowie klassischen Instrumenten sind. Dies zeigt sich in einer zunehmenden Pluralisierung innerhalb der Musikstilrichtungen: die Gruppen kombinieren unterschiedlichste Möglichkeiten zur Klangerzeugung. Die Independent-Rock Ikonen U2 zum Beispiel entwickelten sich in den letzten Jahren weg von ihrem Rockimage der 80er. Seit ‘Achtung Baby’ 1991 haben sich die Bandmitglieder dem Glitteramp; Glamour - Lifestyle verschrieben und kombinieren technisch ausgeklügelte Sound-Details mit klassischen Rockelementen. Mit ihrem neusten Werk ‘Pop’ bekennen sie sich offiziell zu ihrer neuen Stilrichtung. Und wie die Verkaufszahlen zeigen, machen die KonsumentInnen mit! Auch die Urväter der elektronischen Musik Depeche Mode lieferten in ihrer heute fast 20jährigen Geschichte mit dem 1990 erschienenen Album ‘Violator’ die letzte rein elektronisch produzierte Platte. Die beiden neusten Werke ‘Songs Of Faith And Devotion’ (wo sogar Gospel Chöre eingesetzt wurden), sowie ‘Ultra’ gaben den eingefleischten Mode-Fans einiges zu schlucken: die Musiker hatten die Gitarren entdeckt! Das Resultat: Depeche Mode ist mehr denn je eine hitparadenträchtige Popgruppe! Die Deutsche Band Die Krupps vollzog den extremen Wandel von einer Neuen Deutsche Welle-Band mit deutschen Texten (‘Wahre Arbeit, wahrer Lohn’) über die klassische Electro Dance Music (‘Metall Machine Music’) zur heutigen antifaschistischen Hardcore-Gruppe (‘Fatherland’) mit reissenden Gitarren und tiefen Bässen. Trotz diesem enormen Wandel blieb auch dieser Gruppe über Jahrzehnte hinweg eine stabile Fangemeinde erhalten. Und nicht zuletzt der Schweizer Stephan Eicher zeigt, allerdings nur auf nationaler Ebene, wie sich ein musikalischer Wandel, von der Neuen Deutschen Welle über Elektro, Rock bis hin zum Chansons vollziehen kann. Alles in allem zeigt sich, dass wer im internationalen Musikgeschäft längerfristig überleben möchte, mit Rock-, Pop- und Elektroelementen in einer einander ergänzenden Weise arbeiten muss. Diese Entwicklung gleicht der wirtschaftlichen der letzten 10 Jahre: weil sich die Marktlage derart rasch verändert, wird stete Fort- und Weiterbildung gefordert.

JedeR muss von allem etwas wissen und alle müssen von jedem etwas können!

Zudem wird im Zusammenhang mit der Pluralisierung der Lebensformen in zunehmendem Masse Platz für verschiedene Lebensstile gemacht. Was gestern noch der totale Hammer war, kann deshalb heute bereits wieder vollkommen ‘out’ sein. Heute wäre es deshalb auch nicht mehr denkbar, dass Musikgruppen wie The Beatles oder The Rolling Stones über mehrere Jahre mit dem immer gleichen Lied erfolgreich sein könnten. Dies zeigt auch die aktuelle Entwicklung der englischen Rockgruppe Oasis: zuerst wurden sie hochgejubelt und mit ihren Vorbildern The Beatles verglichen (warum kamen mir die Lieder immer so alt bekannt vor?). Der Plattenverkauf hatte europaweit die grössten Auflagen. Was beim Publikum anfänglich in nostalgischem Schwärmen ausartete, endete in miserablen Verkaufszahlen des neusten Albums! Da ist es nicht erstaunlich, wenn die absolute In-Elektro-Band The Prodigy, welche mit ihrem neusten Album ‘The Fat Of The Land’, neben der Single ‘Candle In The Wind’, der heissbegehrten Elton John Hommage an die kürzlich verstorbene Lady Di (Gott hab’ sie selig), das derzeit weltweit am besten verkaufte Album lieferten, drohen, dass dies ihr letzter Streich gewesen sei. Sie wollen, obwohl sie Oasis übertrumpften, keine Mainstream-Band sein. Der Leadsänger von Oasis, Liam Gallagher, pflegte in einem Anflug von Grössenwahn einmal zu sagen, dass nur der liebe Gott noch mächtiger als Oasis sei. Was, fragen darauf die KritikerInnen, bitteschön ist dann The Prodigy?

Während viele Gruppen die Konzerthallen nur noch aus Nostalgie füllen, setzt The Prodigy neue Akzente in der elektronischen Tanzmusik.

Der Sound von The Prodigy ist technisch bis ins Detail ausgeklügelt, unangepasst, aggressiv und trotzdem heissgeliebt. Es scheint, dass der Punk salonfähig geworden ist. U2 hingegen ist Kult pur und lockt mit ihrer Multimedia-Show alle paar Jahre wieder ein Millionenpublikum in die grossen Stadien dieser Welt lockt. Live-Auftritte sind für die Musikgruppen zwar nicht direkt lukrativ, entscheiden aber längerfristig über die Verkaufszahlen der Alben. In diesem Bereich findet eine entscheidende Veränderung statt. Die MusikerInnen mit ihren Instrumenten bleiben bei den Live-Shows zunehmend im Hintergrund. Die Eletronic Dance Music kommt oft vollständig vom Band, was meistens das Publikum gar nicht stört. Sonst steht auf der Bühne einzig ein grosser Turm mit diversen Synthesizermodulen, Sampler, Effektgeräten etc., der diese Maschinen bedienende Techniker und die SängerInnen bzw. TänzerInnen. Trotzdem ist die Wirkung dieser Art von Live Performance nicht zu unterschätzen. Die Konzerte wandeln sich hin zu einer Live Show mit aufwendigen und ausdauernden Tanzeinlagen, Animation und Kommunikation zwischen SängerIn und Publikum (die Stars werfen sich regelrecht in die Menge!) und multimedialem, audiovisuellem Spektakel (Licht und Lasershows, rasche Bilderfolge über Leinwand etc.). Die Messages sind einfach, aber prägnant: ‘Beat The Pressure’, ‘Fuck All!’, ‘Freedom’ oder ‘Im Rhythmus Bleiben’. Im Bereich dieseaForm von Live-Performance wird sich in einer immer schneller werdenden Gesellschaft in den nächsten Jahren weiterhin einiges tun: die technischen Möglichkeiten für Ton, Bild und Bewegung werden immer ausgeklügelter und raffinierter. Dass diese Entwicklung durchaus ihre Schattenseiten hat, zeigt Jörg Heiser in seinem Artikel in der Musikzeitschrift SPEX-Das Magazin für Popkultur (Ausgabe vom Mai 1997) auf. Er schreibt:

"Frauen sind von der Entwicklung der Electronic Dance Music eigentlich vollkommen ausgeschlossen"

(die weibliche Innen-Form würde sich in diesen Artikel also weitgehend erübrigen). Er kritisiert, dass während die Frauen sich langsam einen Platz in der Rock- und Popkultur erobert haben (Beispiele: Skunk Anansie, Alanis Morisette, Madonna etc.), die Electronic Dance Music ihren Ursprung wiederum im weissen Mittelschicht-Patriarchat hat. Die "Dance-Culture" ist für ihn nicht "eine Infragestellung der Rock-Paradigmen" (z.B. Tanzen statt Kopfnicken). Im Gegenteil, mit Elektrogruppen wie The Prodigy, Underworld und The Chemical Brothers kommt seiner Meinung nach, obwohl er zugibt, dass sie durchaus "mehr sind als die Pappkameraden die aus ihnen gemacht werden", "am Ende wieder die alte Scheisse in neuer Schüssel daher (...)". "Analog. Digital. Scheissegal. Die Konfrontation von Rock’n’Roll und Tech auf dem Terrain Pop, als Massenmarkthysteria, könnte also neben dem ganzen voraussehbaren und bedenklichen Hype-Kater-Katarrhen auch den produktiven Bastard einer Infragestellung der, meistens männlichen, Selbstverständlichkeiten beider Genres produzieren" (Jörg Heiser, S. 21).

Anstelle einer Bibliographie einige Tips für den Platten-, respektive CD-Kauf:

Pop & Wave, The Hits Of The 80’s, Volume 1 bis 4, Sony Music 1992-1995.
Yello 1980-1985, The New Mix In One Go, Phonogram GmbH 1986.
U2: Achtung Baby, 1991; Pop, 1997; beide Island Records Ltd.
Depeche Mode: Violator, 1990 ; Songs Of Faith And Devotion, 1993; Ultra, 1997; alle Mute Records Ltd.
The Prodigy: The Fat Of The Land, XL Recordings. 1997.
Stephan Eicher: Les Chansons Bleues / Souvenir / Noice Boys, Phonag 1988.
Oasis: Definitely Maybe, 1994; (What's The Story) Morning Glory? 1995; beide Sony Music.

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23.01.02 15:41


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