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Phänomenologie des Sadomasochismus [1]

 Eine Rezension

Von Tina Hofmann

"Die Trennung von Macht und Sexualität ist als kulturelle Norm etabliert. Macht darf ihr zufolge nicht dazu verwendet werden, sexuelle Handlungen zu verlangen oder zu erzwingen. Demgegenüber erscheint das SM-Ritual normwidrig." (S. 149)

Durch den spektakulären Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurde das Thema "sadomasochistische Sexualpraktiken" wieder einmal heftig diskutiert. Der Entscheid hielt fest, dass sadomasochistische Praktiken zukünftig strafbar sein können, wenn sie zu Körperverletzung führen. Dies auch in dem Fall, wenn der masochistisch an der (Miss-)Handlung Beteiligte mit der Praktik einverstanden ist. Was aber steckt aus soziologischer Sichtweise hinter dem Phänomen des Sadomasochismus? Wie ist dieser Entscheid vor dem Hintergrund einer sadomasochistischen Subkultur zu werten? Das Buch "Sado-masochismus. Szenen und Rituale" bringt uns das Phänomen des Sadomasochismus auf eindrückliche Weise und mit viel Empathie näher.

Der forschungsstrategische Ansatz

"In Wirklichkeit aber gibt es keine Transvestiten, Fetischisten, Pädophilen oder Homosexuellen und auch keine Sadisten und Masochisten. Es gibt nur Individuen, die in bestimmten Kontexten bestimmte sexuelle Reaktionen und Verhaltensweisen zeigen können, aber nicht müssen." (S. 12) Das Buch "Sadomasochismus. Szenen und Rituale" wurde von der "Arbeitsgemeinschaft sozialwissenschaftlicher Forschung und Weiterbildung" der Universität Trier veröffentlicht. Es basiert auf einem Forschungsprojekt, das in der Abteilung Soziologie durchgeführt wurde. Die AutorInnen betreiben ethnographisch-soziologische Forschung, in deren Tradition auch kulturelle Sonderwelten untersucht werden. Ihre Aufgabe liegt im Verstehen von Sinnmustern, die sich in den Handlungen, Ritualen und Gegenständen verkörpern. "Wir wollen mit Hilfe eines streng ethnographischen Forschungsverständnisses über subjektnahe und verstehende Strategien die typischen Sinnmuster dieser fremden - von der soziologischen Forschung kaum berührten - Welt rekonstruieren." (S. 23)

Die AutorInnen arbeiteten mit Daten, die entweder vom kulturellen Feld selbst produziert wurden (Zeitschriften, Videofilme, Ästhetik etc.) oder mit dem Einsatz wissenschaftlicher Methoden (Problemzentrierte Interviews, Beobachtungen, Gruppendiskussionen). Es ging den ForscherInnen primär um den "tatsächlich subjektiv gemeinten Sinn und weniger um die latenten Sinnstrukturen" (S. 31). Das Buch behandelt verschiedene Teilbereiche des Sadomasochismus: Entdeckung der persönlichen Neigungen, Beziehungsformen, Codes und Symbole, Phantasien, Pornographie, Gefühle und Erlebnismuster, heterosexueller und homosexueller Sadomasochismus, etc. Hier der Versuch einige zentrale Ausschnitte aufzuzeigen und zusammenzufassen.

Die Entdeckung von sadomasochistischen Neigungen

"Trotz aller Gegensätzlichkeit ist den Erklärungsmustern der früheren Sexualforschung wie auch der Psychoanalyse gemein, dass sie eine normale Sexualität definieren, einzelne geschlechtliche Aberrationen klassifizieren und ihnen bestimmte Ursachenkomplexe zuordnen." (S. 42)

Die AutorInnen klammern in ihrem Buch die individuelle Genese sadomasochistischer Neigungen aus. Sie wollten einzig von den Befragten wissen, wie diese ihre ersten Erfahrungen im Bereich des SM (2) beschreiben. Die AutorInnen unterscheiden einen selbst- und einen fremdinitiierten Weg. Bei den erstgenannten liegt schon länger ein latentes Interesse am SM vor. Bei den Fremdinitiierten baute der/die LebenspartnerIn oder eine weitere Person das Interesse aus. Es wird aufgezeigt, "dass SM nicht ohnmächtiges Triebschicksal, sondern auch Fokus von Selbstreflexion, Selbst-thematisierung und Selbststilisierung ist" (S. 59).

Frauen sind in der SM-Szene deutlich in der Minderzahl. Deshalb gestaltet sich für heterosexuelle, sadomasochistisch veranlagte Männer die Suche nach einer Partnerin oft schwierig. Häufig führt ihre Suche über Kontaktanzeigen zu einer professionellen Domina. Zudem bilden Parties und Gruppen-Meetings Möglichkeiten für das Knüpfen von Kontakten mit gleichgesinnten Partnerinnen. Bei SM-Schwulen hingegen lassen sich keine Probleme bei der Partnersuche erkennen. Dafür ist es für Frauen aus der SM-Lesben-Szene nicht einfach eine Partnerin zu finden.

"Hier wird es wesentlich davon abhängen, ob es gelingt, die ideologischen Grabenkämpfe zwischen SM- und anderen Lesben zu beenden." (S. 63)

Die sadomasochistische Subkultur

Es gibt viele öffentliche SM-Veranstaltungen, Fetisch-Bälle und SM-Discos. Jede/r mit entsprechendem Outfit kann teilnehmen. Nur in kleineren privaten Zirkeln gibt es Zugangsbeschränkungen. Auf den grösseren Veranstaltungen ist der sexuelle Aktionsradius eindeutig begrenzt. Erlaubt ist das bizzare Outfit oder auch die gekonnt umrahmte Nacktheit. SM-Handlungen kommen, je nach Gruppe, angedeutet im Rollenspiel vor oder als Sklavenvorführungen die auch etwas härter sein dürfen. Je vertrauter hingegen der Teilnehmerkreis ist, desto intimer wird die Atmosphäre. Dann sind auch drastische Aktionen erlaubt.

Bianca (43, S, heterosexuell): "Auf der letzten Fete ging ziemlich was ab. Die dauerte zwei Tage lang. Da hatten sie eine Frau zugenäht. Das war eine Sache. Das war nicht der Geschmack von vielen. Aber es ist komischerweise keiner weggegangen. Geguckt hat jeder, denn es war einfach interessant (...) Andere Paare machten was zusammen, mal kommen dritte und vierte dazu. Aber nicht so wie beim Rudelbumsen. Es ging um SM. Manchmal behandelten auch mehrere Frauen einen Typen, z.B. die Hoden an die Oberschenkel oder den Schwanz an den Bauch annähen, wenn es was hartes sein soll. Oder eben Hoden und Penis so abbinden, dass er doppelt so gross wird. Oder Bondage, dass sie sich absolut nicht mehr bewegen konnten." (S. 73)

Auch in Domina-Studios finden solche Gruppenerlebnisse statt. Wie bei einem Theaterstück spielen die TeilnehmerInnen bestimmte Rollen. Die Inszenierungen drehen sich um das Spiel von Macht und Erniedrigung, von Folter und Leiden oder von Strafe und Gehorsam. Im Mittelpunkt der Tätigkeit als Domina steht aber die Behandlung des einzelnen Kunden, wobei häufig eine Sklavin oder Zofe assistiert. Der Stundenansatz für eine Behandlung liegt bei 200 und 600 Mark.

Geschlechtsverkehr oder schon die Berührung der Domina ist ausgeschlossen. Wenn dies der Kunde aber wünscht, kommen nur die Sklavin oder die Zofe in Frage. Dominas sehen sich nicht als Prostituierte. Ihr Gewerbe bildet ein besonderes Dienstleistungsangebot, das genaue Menschenkenntnis und gutes Einfühlungsvermögen verlangt.

Kontakte und Symbole

Die Medien spielen in den SM-Kulturen eine wichtige Rolle. Beispielsweise gibt es viele Kontaktzeitschriften, in denen Interessierte nach Beziehungen suchen oder sie anbieten: "Wo werden Sprösslinge, Ehefrauen, Freundinnen, Freunde noch mit dem Rohrstock erzogen? Gepflegter Pädagoge möchte mit Rat und Tat zur Seite stehen. Erzieher, mit komplett eingerichtetem Erziehungsraum, erteilt solventen Damen, Herren und Paaren einfühlsame Erziehungshilfe. Wochenend- und Langzeitbehandlung möglich." (S. 91)

"Paar, Mitte dreissig, sie dominant, attraktiv, durchsetzungswillig, er devot, abgerichtet, sucht Kontakt zu Kastrationswilligen, Semikastrierten, Kastraten, Sklaven mit übermässigem Geschlechtstrieb. Äusserste Diskretion." (S. 93)

Ein wichtiges Mittel um das Angebot für einen speziellen Kreis von AdressatInnen verständlich zu machen ist einerseits die "nichtsexuelle Kontextierung des sexuell motivierten Anliegens" (S. 91). Auf der anderen Seite wird die Bereitschaft zu einer enthemmten Sexualität jenseits aller Tabus und Normen signalisiert. "Wer sich aufgrund socher Anzeigen in sexuelle Beziehungen einlässt, signalisiert damit gleichzeitig auch die Bereitschaft zu Praktiken, die jenseits des Normalen liegen. Insofern entsteht hier eine Gegenwelt mit konträren Normen." (S. 93)

Auch kennen die SM-Szenen verschiedene Ästhetizismen. Wichtig ist die Kleidung - von Leder über Latex und Seide bis Gummi. Sogar die Mainstream-Mode erhält Impulse aus der SM-Szene: Lackmäntel, Nietenschuhe, Halsbänder etc. Die AutorInnen betonen auch, dass Kleidung, Schmuck und bestimmte Körperhaltung nutzt werden. Sie dienen der "Verfestigung der virtuellen Identitäten während des SM-Arrangements" (S. 95). Auch der Begriff "Fetisch" spielt in der SM-Szene eine wichtige Rolle. Fetisch meint die sexuelle Fixierung mancher Menschen auf bestimmte Gegenstände. Fetischmaterialien sind in der SM-Szene schwarzes Leder, Gummi und Latex. Auch Uniformen, spezielle Arbeitskleidung, Bart, Tätowierungen, Werkzeuge, Peitschen oder Fesseln spielen für den fetischistischen SM eine Rolle. Fetische haben im SM-Bereich den Charakter eines Accessoires, eines zusätzlichen Stimulus. Der Grad der Fixiertheit auf den Gegenstand kann allerdings unterschiedliche Ausprägungen haben.

Phantasien und Praktiken

Melitta (30, S, heterosexuell): "In der Phantasie hätte ich auch nichts dagegen, wenn Blut fliessen würde. Mit Rasierklingen habe ich es mir schon vorgestellt oder mit Nadeln. Oder so lange schlagen, bis er blutet, das wär irgendwie noch stärker. Also ihn mal so behandeln, dass er halb ohnmächtig wird, dass er übersät ist mit aufgeplatzten Striemen und mit Schnitten. Dass er eben weiss, ich spiele nicht. Das ist eine Vorstellung, die ich oft habe, dass ich mich mal so richtig austoben könnte, dass ich einen Orgasmus vom Sadismus bekomme." (S. 104)

Die Phantasien drehen sich um die Spannungspole von Submission und Dominanz, um sadistische und masochistische Handlungen oder um die Verletzung von Ekelgrenzen. Die normativ-moralischen Schranken der Zivilisation werden ausser Kraft gesetzt. Die Umsetzung der Phantasien hingegen scheitern oft an den jeweiligen physischen und psychischen Gegebenheiten. Vieles wird in der Phantasie als anregend empfunden, was in der Realität an deutliche Grenzen stösst: Die Phantasie kann sich als lusthemmende oder unangenehme Erfahrung entpuppen. "Die Wunden, die im erotischen Traum faszinierend wirken, beginnen in der Wirklichkeit zu eitern und hinterlassen hässliche Narben." (S. 106) Umsetzungsversuche können also nur innerhalb bestimmter Grenzen unproblematisch sein. In ihnen ist immer auch die Überschreitung von Beschränkungen in der Wirklichkeit angelegt.

Die Praktiken konstituieren den äusseren Handlungsrahmen des SM-Szenarios. Die AutorInnen unterscheiden in verbale Mittel, Flagellantismus, Bondage und bizzare Praktiken. Die verbale Ausgestaltung wird "rollenspezifisch als Elemente von Herrschaft und Unterwerfung eingesetzt. Die dominante Person kommandiert, befiehlt, duldet keinen Widerspruch; der passive Teil bittet und fleht" (S. 130).

Joseph (55, M, heterosexuell): "Verbalerotik ist für mich sehr stimulierend: Schwein; Sau; dreckiger Arschlecker; Sohn einer pisswütigen Zuchthaushure; geiler Bock; Ficksau; Leck mir die Fotze sauber; du impotenter Jammerlappen; jetzt wichse dich, du Hurensohn usw. sind Ausdrücke, die in unterschiedlichen Nuancen den Reiz einer Erziehung erhöhen können." (S. 131) Auch das Auspeitschen und Schlagen (Erziehung) sowie Fesselungspraktiken (Bondage) spielen beim SM-Arrangement eine wichtige Rolle. Zudem dienen bizarre Praktiken der gezielten Betonung bestimmter Effekte, zum Beispiel dem Schmerz- oder Ekelerlebnis. Es werden verschiedenste Hilfsmittel verwendet (Klistier, Nadeln, Fäkalien, Rasierklingen, Handschellen, etc.) und Körperteile mit Ringen und Hacken durchbohrt (Brustwarzen, Hoden, Schamlippen, etc.). Beliebt ist auch das Beträufeln mit heissem Wachs, das Streicheln mit Brennesseln oder das Trinken von Urin. Die Autorinnen betonen, dass der SM ein Erlebnisfeld ist, das die Ausgestaltungsformen relativ offen lässt. Die angewendeten Praktiken werden individuell ausgehandelt, dementsprechend gross ist die Variationsbreite. Eine typische SM-Praktik gibt es nicht. Interessant ist ebenfalls, dass manche der Interviewten offenbar nur in der beschriebenen Form intime Kontakte pflegen und aus landläufigem Geschlechtsverkehr keine sexuelle Befriedigung ziehen können. Ihre Orgasmusfähigkeit ist also an den SM-Rahmen gebunden.

Angst und Aggression

Die AutorInnen machen in ihrem Schlusskapitel klar, dass der Mensch Affekte von Angst und Aggression nie nur erleidet, sondern immer auch herstellt. Dem Individuum wird die Kontrolle seiner Affekte und rationales Handeln abverlangt. In einem SM-Zirkel geht es um eine Vielzahl von Emotionen, die wir Menschen in unserem Alltag kontrollieren müssen. Diese Gefühlslagen werden bewusst hergestellt, geknüpft an die Bedingung der freiwilligen Teilnahme.

"Das generelle Verbot der privaten Gewaltanwendung wird durch die Einwilligung des Partners, dem vereinbarten Racheverzicht und durch die angestrebte Reversibilität der Gewaltfolgen gleichsam ausgetrickst. Basis ist hier wie dort die Etablierung einer Spezial-kultur zum Ausagieren der Affekte mit eigenen Regeln, Distinktionen und Kontrollen." (S. 297)

[1] Wetzstein, Steinmetz, Reis, Eckert u.a.: Sadomasochismus. Szenen und Rituale. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1993.


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09.06.06 17:06


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