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Soziologische Aspekte wirtschaftlicher

"Beziehungsdelinquenz"

Von Michael Nollert

Michael Nollert ist Nationalforschungsassistent und kantonaler Oberassistent am Soziologischen Institut der Universität Zürich. Seine thematischen Schwerpunkte umfassen unter anderem Unternehmensverflechtungen, Interessenorganisationen in der EU und Comparative Politics.

Vor 30 Jahren verfasste der britische Soziologe Michael Young die vielbeachtete Satire "The Rise of the Meritocracy, 1870-2033" (1958). Darin schildert er den Aufstieg eines Gesellschaftsmodells, in dem die Zugehörigkeit zur Elite bzw. individueller sozialer Status nicht mehr auf zugeschriebenen (ascribed) Merkmalen (Ethnie, Alter, Geschlecht, soziale Herkunft etc.) oder "rich connections", sondern auf Intelligenz, Qualifikation und Marktleistung (merits) beruht. Ende des 20. Jahrhunderts scheint das Postulat moderner Wirtschaftsgesellschaften, wonach nicht Vitamin B bzw. "soziales Kapital" im Sinne von Bourdieu (1983) (1), sondern Meriten Hauptquelle beruflichen Erfolg sein sollten, mehr und mehr an Legitimität einzubüssen. Dass die Nutzung von Beziehungsressourcen wieder gesellschaftsfähig wird, zeigt sich nicht zuletzt in der massenmedialen Berichterstattung über Karrieren und "Machtnetze" (Monatszeitschrift Bilanz) von Kaderleuten in Politik, Wirtschaft und Kultur. So vermischt sich in den Meldungen über legale "Beziehungsdelikte" bzw. Entscheidungen gegen die "bessere Lösung" jeweils verhaltene Empörung mit dem Ratschlag an die Adresse von RezipientInnen mit "Vitaminmangel", doch mehr Zeit in den Aufbau eines sozialen Beziehungsnetzes zu investieren. Die Rehabilitierungsanstrengungen werden aber auch darin sichtbar, dass verpönte Erfolgsstrategien mit modernen, positiv konnotierten Begriffen versehen werden. Anstatt von "Klüngeleien", "Filz", "Vetternwirtschaft" oder "Seilschaften" ist nunmehr von "Pflege sozialer Kontakte" oder schlicht von "Networking" die Rede. Die gegenwärtige Vitamin B-Euphorie darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass "Beziehungsdelikte" nicht nur den Grundsatz der Chancengleichheit verletzen, sondern letztlich auch wirtschaftlich mehr schaden als nutzen. Von daher dürfte das meritokratische Verteilungsprinzip kurzfristig zwar an Boden, langfristig nicht aber seine Vorherrschaft verlieren.

"Filz ist für mich etwas Positives"

Natürlich gibt es sie auch heute noch, die Kritiker legaler "Beziehungsdelinquenz", die uns von Zeit zu Zeit mit Büchern über paktierende "Nieten in Nadelstreifen" (Ogger 1992), "Cliquen, Klüngel und Karrieren" (Scheuch und Scheuch 1992), "Swiss Connections" (Trepp 1996) beliefern oder wettern, dass die schweizerischen Verwaltungsräte nach Kriterien ausgewählt werden, "die mit Qualifikation und Leistung so gut wie nichts zu tun haben und in jeder Hinsicht gegen marktwirtschaftliche Grundsätze verstoßen." (Wittmann 1998, S. 145). Bei den hiesigen Wirtschaftsmedien bewirken solche Thesen und Fakten zur Zeit höchstens noch ein müdes Lächeln. Mehr Aufmerksamkeit geniessen derzeit prominente Praktiker, die dem Einsatz von Vitamin B vornehmlich positive Aspekte abgewinnen. In diesem Sinne antwortete z.B. Roland Rasi (Ex-Generaldirektor des Bankvereins und Ex-Berater der Krankenkasse Visana) in einem Interview auf die Frage nach seiner Einstellung zum »personal networking«: "Es ist doch ganz normal, dass Leute, die sich kennen und schätzen, auch etwas zusammen machen." (Bilanz, November 1997, Nr. 11, S. 78). Auch Multiverwaltungsrat Robert Jeker betonte in zahlreichen Interviews, dass er bei der Rekrutierung von Kaderpositionen gerne auf "alte Bekanntschaften" zurückgreift. Dem "Filz"-Vorwurf hält er denn auch lapidar entgegen: "Filz ist für mich etwas positives." (Cash, 13. März, 1998, Nr. 11, S. 22)

Von Nutzen für den beruflichen Erfolg

Die Relegitimierung des Gebrauchs von Vitamin B wird auch im gegenwärtigen »Networking«-Boom sichtbar. So verspricht inzwischen eine Flut von Ratgebern und Kursen Abhilfe gegen akuten "Vitaminmangel". Aufschlussreiche Ratschläge, wie sich das Management des privaten "social networking" verbessern lässt, finden sich z.B. in Wayne Bakers "Networking Smart. How to build relationships for personal and organizational success." (1994). Empfehlenswert ist auch die Networking-Beratung des niederländischen Eliteforschers Jos van Hezewijk, die er unter der Webpageadresse www.elite-research.org anpreist. Wer keinen Ratgeber lesen will oder sich keine "Beziehungsmanagement"-Beratung leisten kann, sollte sich vorzugsweise einer Studentenverbindung, einem Hochschulabsolventenverein (Alumniclubs), einer Zunft, einem Verband, einer Partei anschliessen oder sich ein lukratives virtuelles Community Network einklinken. Etwas kostspieliger, dafür aber von grösserem Nutzen, sind Mitgliedschaften in Serviceclubs (Rotary, Kiwanis) und Aktivitäten in Sportvereinen (z.B. Golfclub), in einem elitären Kulturförderverein oder als absolute Krönung der jährliche Besuch des World Economic Forum in Davos.
Dass für geschäftlichen und beruflichen Erfolg Vitamin B unerlässlich ist, haben inzwischen auch geschäftstüchtige Frauen erkannt (vgl. White et al. 1992). Ein vielversprechendes, transnationales Gegengewicht zu den traditionellen "old boys"-Netzwerken bildet z.B. das 1984 in Brüssel gegründete Netzwerk "European Women’s Management Development Network", dem derzeit mehr als 1200 Mitgliederinnen angehören. Auch in der Schweiz finden sich erste Ansätze zur Bildung von "old girls"-Netzwerken. Das grösste unter ihnen, die Swiss Federation of Business & Professional Women (BPW), umfasst derzeit 30 regionale Klubs mit insgesamt mehr als 2000 vornehmlich Unternehmerinnen und erhebt derzeit eine Eintrittsgebühr von 300 Franken und einen jährlichen Beitrag von bis zu 250 Franken. Die Mitgliederinnen beider Netzwerke erhoffen sich natürlich, dass sie ähnlich wie ihre männlichen Kollegen in den etablierten Serviceclubs vom Austausch von Aufträgen und Informationen über offene Stellen profitieren.

Gegen die Diagnose, dass Vitamin B als Statusquelle wieder aufkommt, lässt sich natürlich einwenden, dass die erwähnten Fakten und Tips keinen Bezug zum Berufsleben unterhalb der Chefetagen haben. Quantitative Studien, die sich der Frage nach dem Stellenwert des persönlichen Beziehungsnetzes für die berufliche Laufbahn von ArbeitnehmerInnen im allgemeinen widmen (Granovetter 1974), mussten jedoch kon-statieren, dass eine gewichtige Minderheit der befragten Personen ihren Job nicht via publizierte Stelleninserate, sondern dank Informationen von Bekannten (weak ties) und Freunden (strong ties) fanden. Dass Vitamin B nicht nur den Zugang zu Kaderpositionen und Aufträgen erleichtert, wird inzwischen auch von Personalverant-wortlichen eingeräumt (Cromm und Giegler 1998). Debattiert wird nurmehr, ob "weak" oder "strong ties" relevanter sind. Kurzum: Da der Arbeitsmarkt wie jeder andere Markt nur begrenzt transparent ist, zahlt es sich beim Übergang von der Ausbildung zum Berufsleben durchaus aus, die "richtigen Leute" zu kennen. Burt (1992) wies allerdings darauf hin, dass es dabei nicht nur auf die Ressourcen der Bekannten und Freunde, sondern auch auf deren Beziehungstrukturen ankommen dürfte. So sollte man/frau möglichst darauf achten, sich nur mit Personen zu vernetzen, die in weitläufige Netzwerke eingebunden sind, zugleich aber nicht direkt gegenseitig verflochten sind. Das heisst: Wenn sich A und B, zwei Bekanntschaften von C, gegenseitig kennen, ist einer der beiden Kontakte von C informationstechnisch gesehen überflüssig bzw. redundant.

Betriebs- und volkswirtschaftliche Vorteile

Auch aus Sicht des Betriebs kann es durchaus Sinn machen, sich bei der Besetzung von Stellen oder der Vergabe von Aufträgen des Beziehungsnetzes der MitarbeiterInnen zu bedienen. Ein gewichtiger Vorteil von Vitamin B sind zweifellos verringerte Suchkosten. So erspart die Berücksichtung von FreundInnen oder Verwandten die Kosten für Inserate, Headhunting und Assessment-Verfahren. Einer neueren Studie über den Einfluss sozialen Kapitals auf die Personalrekrutierung zufolge wird MitarbeiterInnen denn auch schon mal eine Provision bezahlt, wenn sie eine Person vermitteln, die am Ende eingestellt wird (Cromm und Gieger 1998). Ein weiterer Vorteil dürfte darin liegen, dass sich eine via Beziehungsnetzwerk rekrutierte Person leichter mit dem Betrieb identifiziert (corporate identity). Vorteilhaft ist ein "Beziehungsdelikt" schliesslich auch deshalb, weil damit der langwierige Aufbau eines Vertrauensverhältnisses (trust) zwischen Rekrutierenden und Rekrutierten bzw. zwischen AuftraggeberIn und -nehmerIn dahinfällt.
Die Ansicht, dass Vitamin B womöglich nicht nur dem Betrieb, sondern auch der Volkswirtschaft insgesamt nutzt, findet inzwischen auch in der Entwicklungstheorie und -forschung mehr und mehr Resonanz. So lassen sich die Erfolgsbeispiele des ost- asiatischen Familienkapitalismus und der »Stämme der Macht« (Kotkin 1996) als Indizien für die These anführen, dass durch ethnische, familiäre und freundschaftliche Netzwerke gestiftetes gegenseitiges Vertrauen (trust) einen positiven Beitrag zur wirt- schaftlichen Entwicklung leistet (Fukuyama 1997).

Die andere Seite der Medaille

Angesichts des reichhaltigen Angebots an Ratschlägen zur Verbesserung des persönlichen Netzwerk-Managements könnte man/frau natürlich leicht zur Ansicht gelangen, dass Vitamin B genauso wie andere erfolgsrelevante Qualifikationen erwerbbar ist und damit nicht mit den Forderungen des meritokratischen Prinzips kollidiert. Aus soziologischer Sicht ist diese Annahme allerdings nur halbwahr, da grosse Teile des persönlichen Sozialkapitals kein Verdienst, sondern "steuerfreie" Geschenke der Herkunftsfamilie sind (Bourdieu 1996). Überdies gilt es zu beachten, dass auch ein Mangel an kulturellem und ökonomischem "Startkapital" genauso wie ein zugeschriebenes Merkmal den Zugang zu lukrativen Quellen sozialen Kapitals erschweren, wenn nicht gar verunmöglichen kann.
Im weiteren ist zu beachten, dass es aus Sicht eines Betriebs ökonomisch fahrlässig ist, jemanden nur deshalb zu begünstigen, weil er oder sie z.B. mit dem Chef verwandt oder verbandelt ist, ist doch damit zu rechnen, dass sich eine Rekrutierung wenig qualifizierter "Vertrauensleute" nicht nur in einem Produktivitätsrückgang, sondern auch einer Verschlechterung des Betriebsklimas niederschlägt. Fraglich ist auch, ob das von Vitamin B gestiftete Vertrauen tatsächlich volkswirtschaftlichen Nutzen abwirft. Nicht zu übersehen ist jedenfalls, dass eine exzessive Begünstigung entlang sozialer Beziehungslinien nach Vorbild des Suharto-Regimes die sozioökonomischen Ungleichheiten verschärft, das soziale Klima vergiftet und letztlich reichlich wirtschaftlichen Schaden angerichtet hat (vgl. auch Woolcock 1998).

Grenzen von Vitamin B und Meritokratie

Trotz aller Vorbehalte scheint sich derzeit Vitamin B zu einer legitimen Statusquelle jenseits der etablierten Meriten zu mausern. Young selbst war übrigens nicht so blauäugig, dass er nicht gesehen hätte, dass sich die Gegner des meritokratischen Prinzips nicht kampflos geschlagen geben: "For hundreds of years society has been a battleground between two principles - the principle of selection by family and the principle of selection by merit. Victory has never gone fully to one principle or the other." (Young 1959, S. 24). Nichtsdestoweniger glaubte er, dass die Meritokratiegegner allein schon deshalb die Schlacht verlieren würden, weil ihr Gesellschaftsentwurf keine wirtschaftliche Effizienz hervorbringe: "The Conservatives want two luxuries at once - the luxury of inheritance and the luxury of efficiency. But they cannot have them both." (S. 148). Begrenzt ist allerdings auch die Entfaltung des meritokratischen Prinzips. So wird mit "Beziehungsdelinquenz" solange zu rechnen sein, als es MitgliederInnen "sozialer Kreise" (Simmel) - sei das eine Familie, ein Männerbund oder eines der angesprochenen Frauennetzwerke - nicht verwehrt ist, MitgliederInnen gegenüber NichtmitgliederInnen zu bevorzugen. Da sich die sozialen Kreise oftmals kreuzen, sind damit auch weiterhin Interrollenkonflikte vorprogrammiert. So müssen sich z.B. Personalverantwortliche wie jede andere sozial vernetzte Person sowohl mit den Erwartungen des Betriebs als auch mit Wünschen und Ansprüchen ihrer Familienangehörigen, FreundInnen und ArbeitskollegInnen auseinandersetzen. Ergo wird auch in Youngs Meritokratie bei Stellenbesetzungen und der Vergabe von Aufträgen gelegentlich Vitamin B mitspielen. Kurzum: Die Gabe oder der Verdienst, die richtigen Leute zu kennen, dürfte auch in ferner Zukunft oftmals eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für beruflichen Erfolg bleiben.

Literatur:

Baker, Wayne (1994) Networking Smart. How to build relationships for personal and organizational success.
Bourdieu, P. (1983) »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital.« S. 183 in: Rainer Kreckel (Hg.) Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen.
Bourdieu, P. (1996) Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main.
Burt, Ronald (1992) Structural Holes, The Social Structure of Competition, Cambridge.
Granovetter, Mark (1973): Getting a Job. A Study of Contacts and Careers, Cambridge.
Cromm, Jürgen/Giegler, Helmut (Hg.) (1998): Soziale Beziehungen und Personalauswahl. Eine empirische Studie über den Einfluß des kulturellen und sozialen Kapitals auf die Personalrekrutierung, München.
Fukuyama, Francis (1997) Der Konflikt der Kulturen. Wer gewinnt den Kampf um die wirtschaftliche Zukunft. München.
Kotkin, Joel (1996) Stämme der Macht. Der Erfolg weltweiter Clans in Wirtschaft und Politik. Reinbek.
Ogger, Günter (1992) Nieten in Nadelstreifen. München.
Scheuch, Erwin/Scheuch, Ute (1992) Cliquen, Klüngel und Karrieren. Reinbek.
Trepp, Gian (1996) Swiss Connections. Zürich.
White, Barbara/Cox, Charles/Cooper, Cary (1992) Women’s Career Development: A Study of High Flyers. Oxford/Cambridge Mass.
Wittmann, Walter (1998) Die Schweiz. Ende eines Mythos. München.
Woolcock, Michael (1998): Social capital and economic development, Theory and Society 27: 151-208.
Young, Michael (1958): The Rise of the Meritocracy 1870-2033. The New Elite of our Social Revolution. London.

Fussnoten:

1 Soziales Kapital umfasst demnach "die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzwerks von mehr oder weniger institutionalisierter Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden ist." (Bourdieu 1983, S. 190)


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09.06.06 16:55


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